Eine
Annäherung von verschiedenen Seiten aus
-- Leseprobe --
1. |
Der Expressionismus als Synthese |
2. |
Der Abstrakte Expressionismus: Freiheit als Doktrin |
3. |
Die Kunst als Ware, der Mythos als Ware |
4. |
Pathos oder Apathie (die Provokation im Kunstwerk) |
5. |
Die sinnliche Wahrnehmbarkeit eines Kunstwerkes und das Importieren von Ideen |
6. |
Die Bedeutung der Synthese in Kunst, Philosophie und Wissenschaft |
6.1. |
Das heutige Problem der Synthese |
6.2. |
Die Schwierigkeit der Synthese |
6.3. |
Synthese und Verantwortung |
6.4 |
Das Konzept der Synthese in den sinnlich wahrnehmbaren Kunstäußerungen |
7. |
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8. |
Erscheinung und Wesen der Informellen Malerei |
9. |
Synthetischer Expressionismus |
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Eine stilistische Ausprägung ist immer verbunden mit einer Spezialisierung, die zunehmend manieristisch wird, ein Prozeß, dessen Sinn sich langsam aushöhlt: hat doch anfangs etwas wesentlich Neues ein neues Erscheinungsbild hervorgebracht, verläuft zunehmend nur noch die Weiterentwicklung der Erscheinung und ihrer Merkmale. Das Wesen bleibt auf der Strecke. Daher kann man jedem manieristischen Stil ein gewisses Maß an Entfremdung (als Kluft zwischen Erscheinung und Wesen) unterstellen. Manche manieristische Stile (Rokoko, Biedermeier, Fotorealismus, viele moderne individuelle Richtungen) sind Einbahnstraßen und Sackgassen zugleich: es führt kein Weg weiter und auch keiner zurück. Bestenfalls aber gelingt es Künstlern noch rechtzeitig von dem manieristischen Weg abzuweichen.
So erscheint Toulouse-Lautrec als »Abweichler« vom Impressionismus, der durch die Betonung der Umrißlinie, durch Ornament, Eleganz und Schwung den Jugendstil vorbereitet hat. Und, ohne daß er zum Jugendstilmaler wurde griff Munch die umfließenden Linien auf, um das Wesentliche zu betonen und wurde zum Wegbereiter des Expressionismus. Gerade auf dem Entwicklungsweg vom Impressionismus zum Expressionismus lässt sich beobachten, wie am Ende eines epochalen Stils der Entwicklungsstrom sich in viele Seitenarme verzweigt, die später wieder zusammenfließen. Selbst einst Vertreter des Impressionismus suchten van Gogh, Gaugin, Cezanne und Toulouse-Lautrec einen Ausweg aus dem impressionistischen Paradigma, welches ihnen zu eng wurde in der Beschränkung auf eine spezifische Maltechnik und ein dominantes Interesse an der Darstellung von Bewegung und Licht. Im Bestreben feste Materie zu malen, kam Cezanne zu einer Vorwegnahme des Kubismus, der über Picasso in den Expressionismus einmündete. Ebenso reichten van Gogh die impressionistischen Tupfen nicht mehr. Seine Pinselstriche wurden kräftig und deren Farbauswahl folgte keiner impressionistischen Idee der Farbmischung im Auge mehr. Sein Aufbruch wurde von den Fauvisten begeistert übernommen, die die direkten Vorläufer des Expressionismus waren. Gaugin kam wieder zu geschlossenen, vielfach monochrom modulierten Formen mit starker Farbigkeit, was eine Verletzung der Hintergrundtiefe zur Folge hatte. Matisse nahm das in radikaler Weise auf: im Bild »Rotes Zimmer (Der Nachtisch - Harmonie in Rot)« ist die Raumtiefe demonstrativ aufgehoben. Auch dies ein wichtiger Vorläufer des Expressionismus. Nimmt man das bereits über Munch Gesagte hinzu, wird sichtbar, daß der Expressionismus von 1909 bis 1930 als eine Synthese vieler Stilübungen aufgefasst werden muß. Die Tatsache, daß es sich um eine echte Synthese und keine eklektizistische Mixtur handelt, sieht man den einzelnen Werken eines Künstlers genau an: sie sind stilistisch homogen, neu und eigenständig.
Betrachtet man den Stil einer Epoche als Konvention, kann diese mehr oder weniger künstlich oder im Gegenteil natürlich sein. Eine künstliche Konvention ist davon geprägt, mehr Energie zur Aufrechterhaltung zu verbrauchen. Speist sich die Konvention aus vielen Quellen und schafft sie es, diese Ergüsse zu fusionieren zu einer bruchlosen Einheit wird sie stabiler, natürlicher, überzeugender und lässt gerade dadurch echter Individualität genügend Raum. Dies kann für den Expressionismus Gültigkeit haben, denn kaum eine Strömung ist so wenig modisch, sondern hat Tiefe und ein gemeinsames menschliches Engagement und das bei so ausgeprägten individuellen Haltungen von Marc und Schmidt-Rottluff über Beckmann bis hin zu Soutine und Hofer.
Diese Auffassung einer gesetzmäßigen ständigen Weiterentwicklung, deren Triebkraft in der Kunst selbst wurzelt, kann über den Zeitraum von der Renaissance bis zum Informel vertreten werden, allerdings nur innerhalb einer dialektischen Sichtweise, die notwendige Vorgriffe und Rückgriffe mit einschließt, ebenso wie die Einsicht, daß jedes neue in sich geschlossene Paradigma auch die Ursache für seine Überwindung von Anbeginn an enthält.
Selbstverständlich kann man der Entwicklung nur eigendynamische Gesetzmäßigkeit zubilligen, solange sie sich in gewisser Freiheit vollziehen kann und davon kann seit 1943 kaum noch eine Rede sein. Der Fakt, daß der Abstrakte Expressionismus fast 30 Jahre weltweit dominierte, kann kunstimmanent nicht erklärt werden, deutet also nicht auf eine besonders stabile Konvention hin, sondern eher auf eine hohe Energiezufuhr.
Ich
habe in den letzten 16 Jahren einige auch sehr umfangreiche und gute Bücher über
die Kunst des 20. Jh. oder die Entwicklung der Malerei seit dem Klassizismus
gelesen. Dabei ist mir in allen Büchern das gleiche Phänomen begegnet, nämlich
◦
eine äußerst klare und
sachliche Anwendung der Sprache, die ansatzweise Merkmale einer
wissenschaftlichen Nomenklatur trägt (wenn ich an Begriffe wie »analytischen
Kubismus« bzw. »synthetischen Kubismus« denke),
◦
die Darstellung der
Entwicklung der einzelnen Stile nicht im Sinne einer nur chronologischen
Abfolge, sondern als stringent kausalen Zusammenhang, (nicht nur als Behauptung,
sondern ist nachvollziehbar), also als Zusammenhang, der gegeben ist durch
Eigendynamik der Entwicklung der Malerei als auch durch Interaktion mit anderen
Gebieten der sich entwickelnden Kultur (Wissenschaften, gesellschaftliches
Bewusstsein, technische Funktionalität,)
◦
und natürlich die
Auffassung, daß das Entstehen eines Kunstwerkes einer eigenen Notwendigkeit
folgt, eine innere Gesetzmäßigkeit hat, die nicht aus der Psyche der Künstlers
resultiert. Der Künstler sei nur Vollstrecker eines einzelnen notwendigen Aktes
in einem großen Prozeß und seine Psyche spielte nur insofern eine wesentliche
Rolle, daß er derjenige ist — und eine etwas unwesentlichere
Rolle in der konkreten Ausformulierung dieses Kunstwerkes.
Ab
1945 endet diese Art der kunstwissenschaftlichen Beschreibung abrupt.
Die Sprache wird unverständlich (wohlgemerkt ein und desselben Autors!),
wird pseudointellektuell literarisch, der Versuch stilistische Zusammenhänge
aufzubauen, wird gar nicht erst unternommen, die »Entwicklung« wird zu einer
Abfolge von Moden, resultierend (angeblich) aus der starken Persönlichkeit und
Psyche von Einzelkünstlern (Jackson Pollock, Joseph Beuys, Yves Klein). Somit
wandelt sich das, was vor 1945 als gesellschaftliches Produkt aufgefaßt wird,
zu einem individualistischen Produkt in heutiger Zeit. Insofern sagt die
Literatur nichts Falsches aus; die Beschreibung deckt sich mit der Realität,
schlimmer noch sogar: wenn früher die Qualitätseinschätzung eines Künstlers
vor allem darin lag, wie stark er andere Künstler durch sein Werk inspirieren
konnte, d.h. wie fortsetzungsfähig seine — innovativen — Ideen waren, was
wiederum auf den gesellschaftlichen Charakter eines vorhandenen
Entwicklungsstromes hinweist, wird heute die Bewertung praktisch nur dadurch
vollzogen, wie gut er sich gegen die Massenmedien durchsetzen kann oder vielmehr
sich mit ihnen arrangiert, letztlich wie raffiniert er PR- und
Marketingstrategien in seinen Dienst stellen kann. Von Inspiration für andere
oder gar Fortsetzungsfähigkeit seines Werkes kann keine Rede sein.
Aber
das Problem an den besprochenen Büchern ist eben, daß sie genau das nicht — und gleich gar nicht kritisch — erwähnen, sondern lobhudelnderweise schildern
was man sieht und nicht erklären. Daß sie in Bezug auf die Wichtigkeit
dieser Kunst nach dem 2. Weltkrieg keinen Unterschied machen zur Kunst davor
ohne jedoch erklären zu können, worin die Wichtigkeit besteht, außer
in dem Fakt der bloßen Existenz und vor allem ist es das Problem, daß sie ihre
Inkompetenz oder Komplizenschaft belletristisch ausufernd verschleiern.
Ich,
jedenfalls, habe am Anfang verzweifelt versucht zu verstehen, was die da
schreiben und die Unfähigkeit auf meiner Seite vermutet, bzw. den Bruch um 1945
dann mir so erklärt, daß zur genaueren Einschätzung der zeitgenössischen
Kunst noch nicht ausreichend historische Distanz aufgebaut werden konnte.
Auffällig
ist, daß die École de Paris, deren Kunst auch als Informel
bezeichnet wurde, um 1945 in New York School umbenannt, als amerikanische
Erfindung hingestellt und deren Produkt mit »Abstract Expressionism«
etikettiert wurde. Im Prinzip war es eine ähnliche Malerei nur die Formate
waren etwa viermal so groß. Diese Kunst, zu der auch Jackson Pollocks Werk zählt,
die — abgesehen von ihrem avantgardistischen Ansatzpunkt, nämlich die Farbe
als Materie zu bewerten — sich durch Beliebigkeit auszeichnet, wurde mit
gigantischem Aufwand in der westlichen Welt zur Schau gestellt. Offiziell liest
sich das heute so: »Der abstrakte Expressionismus war die erste rein
amerikanische Stilrichtung der bildenden Kunst. Waren bisher die prägenden
Einflüsse von Europa nach Amerika gelangt, so beeinflusste jetzt erstmals
Amerika das Kunstgeschehen in Europa.« Encarta Lexikon.
Und
ebenso auffällig ist, daß sich fortan eine zweigleisige »Entwicklung«
anschloß: auf der einen Seite die Fortdauer der informellen Malerei ohne, daß
sie sich weiterentwickelte — außer vielleicht, daß die anfängliche
sekundenschnelle Geste langsamer, lyrischer und unentschlossener wurde — bis
sie gegen Mitte der 80′er Jahre teilweise von den Jungen Wilden verdrängt
wurde, und auf der anderen Seite ein hastiger Wechsel von Arts und Ismen. Zu
denen zählt auch die Pop-Art, eine englische Erfindung, durchaus kritisch
gemeint, die beinah mit einem gewissen Zynismus die Plastik-Welt lächerlich zu
machen versuchte und die dann über den Atlantik wanderte und drüben mit
amerikanischer Unschuld pragmatisch Reklame und Comic zur Kunst erklärte.
Um
es zusammenzufassen: ich stand also vor dem Rätsel, wieso die kunstbildenden
Gesetzmäßigkeiten 1945 ins Stocken geraten waren. Einen ersten Hinweis gab mir
Chris Steinbrecher, ein Galerist aus Bremen, im Herbst 1992, der lapidar
behauptete, daß der Abstrakte Expressionismus dafür installiert wurde, um den
Sozialistischen Realismus zu bekämpfen. Zuerst dachte ich an den
Sozialistischen Realismus des Ostblocks und hielt die Behauptung für übertrieben,
denn so spürbar stark war der Einfluß ja nun doch nicht auf Sitte, Mattheuer
oder Tübke. Aber dann erinnerte ich mich an etliche Hefte der Zeitschrift
»Tendenzen«, die ich hatte, in denen einige Artikel auch diese Auffassung
vertraten; auch im Hinblick auf die ersten Ausstellungen der documenta in
Kassel. Tatsächlich wurde selbst von den Veranstaltern ganz unumwunden geäußert,
daß die gegenständliche Kunst dort keinen Platz finden kann: z.B. im
Einleitungstext des Kataloges zur documenta II, 1959, geschrieben übrigens von
Werner Haftmann, der da betont: »daß Qualität im Kunstwerk nur möglich ist,
wenn es unbehindert von außerkünstlerischen Forderungen in Freiheit vollzogen
wird, und daß ihm Repräsentanz (dem Kunstwerk in der documenta, T.M.) nur dann
zugesprochen werden kann, wenn ihm ... Wirklichkeitsbewältigung (hervorgeh.
T.M.) eigentümlich ist. Das bedeutete den Verzicht auf die politisch
reglementierte Kunstübung des ,sozialistischen Realismus′. ... Das schloß
aber auch jene an sich interessanten Verbindungsversuche zwischen
Propagandarealismus und Expressionismus aus.«
Das ist zwar nicht ganz falsch, was er da schreibt, aber das Motiv ist
klar: um den soz. Realismus Westeuropas meilenweit zu verdammen, muß
gleich die gesamte gegenständliche Kunst, die irgend etwas aussagt,
ausgeschlossen werden. Lächerlich dabei ist aber die Behauptung, der soz.
Realismus im Westen sei politisch reglementiert. Und weit schlimmer als lächerlich — ja
eigentlich schon sich selbst entlarvend — ist die Vorstellung, daß die
Beliebigkeit, Anpassung und Aussagelosigkeit darstellende Konfettimalerei von
Pollock und anderes Farbgespritze Wirklichkeitsbewältigung ist. Das sagt genügend
aus über die Möglichkeit, im kapitalistischen Pluralismus Wirklichkeit zu bewältigen.
Doch Haftmann war aber nicht irgendwer, er war ein einflußreicher
Kunsttheoretiker der BRD — und des vorangegangenen Reiches. 1934 schrieb er über
den Expressionismus, den er damals noch verehrte: » Ihre Fülle der Sendung
ist so deutscher Art wie nur etwas ..., Das europäische Bild der Kunst sollte
deutsch zentralisiert werden. ... Die politische Form der westlichen Demokratien
ist in dem selben Maße fraglich für den Deutschen wie der politische
Kollektivismus östlicher Prägung. ... Das Geschick formt sich aus dem Willen
des Geistes. Aber hinter dem Geist steht bestimmend die schicksalhafte Sendung,
die ihm eingelagert ist vom Blut und vom Raum.« Man kann das verstehen: er
wollte mit diesem Vokabular den Expressionismus retten. Dennoch stimmt dieser
Wandel bedenklich: spricht sich der für Nation, Blut und Boden und gegen
Kollektivismus und Demokratie aus, der später den Begriff von der
»Weltsprache der Abstraktion« geprägt hat. In seinem Nachruf schreibt
Beaucamp 1999 in der FAZ, daß »der deutsche Evangelist der modernen Kunst ...
in ihr ein Allheilmittel sah, das tiefste Offenbarungen, aber auch Versöhnung
und Erlösung von geschichtlicher Schuld versprach.« Ob der Abstrakte
Expressionismus dieses Verspechen gehalten hat, ist weniger interessant als die
Frage, welche geschichtliche Schuld gemeint ist und wessen Schuld. Man kann das
psychoanalytisch deuten: ein selektives Verdrängen ist schlecht möglich, mit
der Schuld muß auch der Zeuge verschwinden. Die abstrakte Kunst war für
Haftmann eine Reinwaschung, ein Neubeginn nach dumpfer Vergangenheit.
Weitere
Hinweise erhielt ich in den letzten fünf Jahren. Aufmerksam geworden durch
einige Kapitel in dem Buch im »Namen des Staates« von Andreas von Bülow,
bin ich gezielt auf die Suche gegangen nach der Frage, welche Künstler,
Wissenschaftler und Philosophen sich in den Dienst der antikommunistischen
amerikanischen Propaganda stellen lassen haben, egal ob bewusst oder unbewusst.
Und habe dabei Antworten gefunden selbst auf Fragen, die zu stellen mir nie
eingefallen wäre, denn seit einigen Jahren gibt es eine echte Forschung auf dem
Gebiet der gezielten Beeinflussung Nachkriegseuropas durch die USA. Und
Literatur:
◦
Serge Guilbault: Wie New
York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus,
Freiheit und Kalter Krieg
◦
Frances Stonor Saunders:
Wer die Zeche zahlt... Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg.
◦
Reinhard Müller-Mehlis:
Des Kaisers neue Kleider. Der Schwindel der Moderne
◦
Richard Kohler: Mafia,
Geheimdienste und Politik der USA
◦
Reinhold Wagnleitner:
Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich
nach dem zweiten Weltkrieg.
Schon
während des Krieges arbeitete die Abteilung für psychologische Kriegsführung
der US-Armee Pläne aus, wie man über den kulturellen Sektor Einfluß auf die
Bevölkerung der Gegner ausüben und Werbung für die eigene Sache machen könnte,
auch zur Mobilisierung der eigenen Kräfte. Hauptsächlichste Waffe war das Wort
Freiheit. Mit der Zurschaustellung der eigenen Freiheit konnte man die Unmündigkeit
der Massen in den Diktaturen am einfachsten lächerlich machen. Obwohl das
vordergründig gegen Deutschland aufgefahren wurde, war es genauso gegen die
UdSSR konzipiert. Denn es wurde versucht, die Kluft, die sich auftat zwischen
Sozialisten und dem Bolschewismus auszuweiten. Trotzkisten, Linke Anarchisten, Künstler
und Wissenschaftler, die entweder aus der UdSSR oder vor Franco aus Spanien nach
Mexiko oder in die USA geflüchtet waren, die ja noch an einen eigenständigen
Weg zum Sozialismus glaubten, jenseits der UdSSR, sollten auf die
freiheitliche amerikanische Seite gebracht, zu Feinden des Stalinismus und
letztendlich zu Antikommunisten erzogen werden. Nach dem Krieg wurden diese
Aktivitäten naht- und hemmungslos fortgesetzt, nunmehr durch die CIA
im Hintergrund — im Vordergrund agierten fast 100 gemeinnützige
Organisationen oder Stiftungen, ja sogar Museen, die eigens für diesen Zweck in
den USA und europaweit gegründet wurden. Manche existierten auch schon vorher,
ließen sich bereitwillig benutzen, betrieben Geldwäsche, indem sie CIA-Gelder
an weitere Stiftungen stifteten und dabei ihren guten Ruf auf Hochglanz
polierten (Ford foundation). Ein wichtiges Instrument dieser »covered
operations« war der in Berlin von mehreren CIA-Männern (Michael Josselson,
Melvin Lasky, Tom Braden) gegründete Kongress für kulturelle Freiheit, der bis
1967 arbeitete.
Arthur
Koestler war mit dabei, George Orwell, Willy Brandt, Robert Oppenheimer, Hannah
Arend (als Totalitarismusspezialistin), Bertrand Russell war Ehrenpräsident ...
- sie alle wussten, daß sie von der CIA bezahlt wurden. Manche, die mitmachten
und in den Zeitschriften des Kongresses Artikel veröffentlichten wie
André Gide, Golo Mann, ja auch Albert Camus waren vielleicht nicht im
Bilde. Doch man hätte es wissen können: Sartre und Simone de Beauvoir haben
den Kongreß hart kritisiert (und dabei Freunde verloren).
Es
gab einen Namen für diesen fanatischen antikommunistischen Kulturangriff: »operation
mockingbird«; der Operationsplan für Deutschland hatte den Decknamen »pocket
book«. Im Prinzip ging es darum, Kunstereignisse stattfinden zu lassen,
Preisverleihungen, Ausstellungen, Konzerte, Veröffentlichungen, die allesamt im
Zeichen der Freiheit standen und den »Kunstdogmatismus« im sozialistischen
Lager lächerlich machen sollten und natürlich auch, um Stalin zu verletzen,
wenn seine ehemaligen Landsleute in Amerika weltberühmt werden: Strawinsky,
Alexander Archipenko, Markus Rothkowitsch, Chagall ... und natürlich ging es auch
darum, den militärisch nun zur führenden Weltmacht aufgerückten USA ebenfalls
die kulturelle Hegemonie zu sichern.
In
der Malerei spielte der Abstrakte Expressionismus die entscheidende Rolle.
Jackson Pollock wurde zum wichtigsten Maler der Welt bestimmt und Picasso vom
Sockel gestoßen (er war ja immer gegenständlich geblieben und außerdem
Kommunist).
»Die
abstrakte Kunst ... erreichte in den 50er Jahren ihre Alleinherrschaft, wurde
sie doch zunehmend als Inbegriff der Demokratie und als Zeichen der
Westintegration ideologisiert und auch politisch unterstützt. Im Besonderen
zeigte sich dies in der Förderung abstrakter Kunst durch die CIA, welche die
ersten europäischen Ausstellungen der »Abstrakten Expressionisten« mehr als
offensichtlich als Zeichen der westlichen Freiheit wider die östliche
Unfreiheit finanzierte.
Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20.Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001; S189«
Es
folgten etwa 20 Jahre, die von einem fieberhaften Eifer gekennzeichnet waren,
bei dem vor allem erstaunlich ist, daß unterschiedlichste Kreise: extrem
Konservative aus Geheimdiensten, Militär und Finanzoligarchie -
antibolschewistische Linke - ehrgeizige Philosophen, Künstler und
Wissenschaftler - gescheiterte Existenzen und resignierte ehemalige Humanisten,
die wieder mal etwas Schwung brauchten, einen Kampf führten, der sie einte,
obwohl jeder ein anderes aber eben sein spezifisches Interesse an der
Sache hatte. Will man es zusammenfassen, gegen was sie kämpften, trifft das
Wort Bevormundung vielleicht am besten. (Wenn jemand als Erwachsener verbissen
gegen Bevormundung - die ihn gar nicht trifft - kämpft, sind negative
Kindheitserinnerungen nicht auszuschließen). So irrational motiviert dieser
Kampf auch war, wurde er durch die große gemeinsame Rationalisierung, daß sie
es als ureigenste Privatangelegenheit empfanden, die kommunistische Gefahr
einzudämmen, geeint.
Wobei
man einräumen muß, daß auch ein Großteil der Kampfesenergie investiert
werden mußte, um diejenigen der eher dem altmodischen amerikanischen Kitsch
zugeneigten Regierungsmitglieder zu überzeugen, denn von dieser Seite erfolgten
scharfe Attacken gegen die neue Kunst. Schwer zu klären ist die Frage, wofür
sie eigentlich kämpften. Ich habe etliche Artikel, Briefe und Statements
gelesen, in denen die Verfasser vehement bekundeten, für die Freiheit zu kämpfen,
aber aus keinem einzigen war ersichtlich, worin die Freiheit bestehen soll. Außer
in der Meinungsfreiheit. Doch da diese Artikel alle nicht nur systemkonform
waren, sondern eigeninitiatorisch danach trachteten sogar Staatsdoktrin zu übertreffen,
kann man nicht mal deren Veröffentlichungen als Meinungsfreiheit ansehen. Man
muß sich auch nicht unbedingt fragen, wofür man kämpft, wenn die Sache läuft
und unbewußt oder bewußt profitierten alle derart davon, daß wir nicht noch
zugespitzt fragen müssen:
waren
die Künstler so clever, sich von den Geheimdiensten finanzieren und dabei auch
noch berühmt machen zu lassen oder war die CIA so clever, die Künstler zu
missbrauchen?
Das
eigentlich grausige Resultat an der ganzen Geschichte jahrzehntelanger
Manipulation der Kunst, die ebenso im Ostblock erfolgte — wenn auch anders, ist, daß heute kaum noch einer davon ausgeht, daß
sich Kunst gesetzmäßig entwickelt.
Es
war wahrscheinlich schon immer so, daß die meisten Menschen sich nicht darum
gekümmert haben, was Kunst ist; für sie war Kunst Geschmackssache, ohne daß
sie sich dabei Klarheit verschaffen wollten, wodurch ihr Geschmack geformt
wurde. Aber das hat sich auf den Kunstbegriff kaum ausgewirkt, da es vielmehr
die Liebhaber und Mäzene waren, die durch ihre Kaufkraft selektierten. Dabei
sollte das Gekaufte langanhaltenden oder sich sogar steigernden Wert besitzen,
so daß der erfolgreiche Käufer von damals kunstwissenschaftliches Verständnis
brauchte, um Werke für die Zukunft zu entdecken. Er war nicht so narzißtisch,
vielleicht auch nicht so kapitalistisch durchtrainiert, daß er annahm, nur weil
er in eine bestimmte Kunstrichtung investierte, würde diese in die
Geschichte eingehen. Es bedarf schon eines übersteigerten Machtgefühls, dies
zu glauben, und doch sieht der erfolgreiche Käufer von heute eher darin seinen
Weg, die gekauften Werke durch Popularisierung aufzuwerten. »Investoren verdrängen
die Liebhaber« lautet die Überschrift einer Analyse der Zeitschrift ART 1989
und beschreibt »den neuen Typ des systematisch investierenden Käufers, der
von Malerei keine Ahnung hat, der nicht die Farbe auf der Leinwand in
Augenschein nimmt, sondern die Liste früherer Ausstellungen und
Reproduktionen«.
Doch
wenn sich Kunst nicht mehr gesetzmäßig entwickeln soll, was glaubt man heute
dann unter Kunst zu verstehen? Der im allgemeinen nicht so drastisch
ausgesprochene Konsens ist doch, daß Kunst die Fähigkeit eines Menschen
ist, seine Seelenexkremente so zu formulieren, daß sie Logo-Qualität
erreichen, also reproduzierbar und als die seinen erkennbar sind, damit der
davon Angesprochene im Akt des Erwerbes ein Bekenntnis, welches ihm Identität
sichert, ablegen kann wobei er glaubt, das Kaufobjekt bringe Rendite, vor allem,
wenn man die dem Verkauf vorangegangene Zeremonie in die Medien tragen kann, was
den Wert des Objektes und seines Produzenten und manchmal auch des Erwerbers
hebt und dem Journalisten die Möglichkeit verschafft, seine
schriftstellerischen Qualitäten unter Beweis zu stellen.
Ich
will damit nicht in Abrede stellen, daß gute Kunst oft aus der Situation von
Bedrängnis und Spannung entstanden ist; das heißt aber nicht, daß Kunst die
Unterdrückung braucht, sie war vielleicht nur das einzige humanistische Mittel,
welches sich zur Wehr zu setzen wagte und uns deswegen überliefert ist. Und es
ist überhaupt der Unterschied, wenn Kunst schon aus der gequälten Seele
quillt, ob sie motiviert ist sich zu wehren oder höchstens Mitleid erregt.
Im Ausstellungskatalog »Positionen, Malerei aus der BRD« 1986, S. 14, liest man über Willi Baumeister und Ernst Wilhelm Nay: »Doch auch das bleibt festzuhalten: Nach Auschwitz, so hatte Adorno erklärt, könne man keine Gedichte mehr schreiben. Diese Generation von Künstlern hatte jedoch den Glauben an die Kunst nicht verloren, ja erachteten in ihr noch immer eine überpersönliche Instanz, der der Maler gleichermaßen wie der Betrachter zu dienen habe.« Jedoch »Die Nachkriegsgeneration verlor den Boden unter den Füßen, da selbst die Konventionen, denen die heroische Generation der Avantgarde ihren Protest noch dialektisch vermitteln konnten, zerstört waren. In der Brechung war die Geschichte und die Geschichte der Kunst wahrzunehmen und nur in der Zerstörung der Vorbilder war es möglich, in den Bruchstücken das Verlorene zu evozieren.« Siegfried Gohr, in Kunst und Kirche, 3/89, Positionen deutscher Malerei. Das heißt, der Faschismus hat den Idealismus nicht so effizient zerschlagen wie die auf ihn folgende Freiheit und Freie Marktwirtschaft. Mit der Abkehr von diesem Idealismus vollzieht sich auch ein radikaler Individualismus, der die Unsicherheit und Isolation, mit denen Künstler ohnehin geschlagen sind, wesentlich verstärkt.
Nachdem die spontane Kunstentwicklung durch die faschistischen Propagandamaßnahmen, durch die Formalismusdebatte im Sozialismus und die amerikanische Einflussnahme auf das Nachkriegseuropa bis aufs Äußerste deformiert wurde, ist die wissenschaftlich-analytische Kunstbetrachtung eher einer journalistischen gewichen.
Man hat sich daran gewöhnt, es ist auch gleichgültig, was der Künstler darüber denkt, was Kunst sei, er wird das produzieren, was der Markt ihm vorschreibt. Aber die Verhältnisse sind hier nicht ganz so einfach wie beim Brotverkauf. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden Kunstwerke auch geschaffen und verkauft. Aber danach ist die marktorientierte Rückkopplung so weit fortgeschritten, daß Kunstwerke nicht nur gemacht werden um sie zu verkaufen, sondern daß das gemacht wird, was verkäuflich ist, daß der Künstler, diese Verhältnisse verdeckend, glaubt, was er schaffe entspräche seinem individuellen künstlerischen Credo. Weil die Konvention aber diejenige ist, daß etwas Neues, was unbewusst bereits erwartet wird, höher zu bewerten ist, setzt die gleiche Dynamik ein wie bei Mode und Modemachern. Die verzweifelte Frage des Künstlers wird sein: Was kann ich machen, was zwar im Trend liegt, ihn aber auch soweit verlässt, damit es Aufsehen erregt? Unter diesem Diktat des Individualismus kann der Künstler kaum noch individuell fühlen, geschweige denn produzieren. Da die Kunstproduktion ihrer Natur gemäß deutlich immaterieller ist als die von Brot oder Zement, und der Bedarf meist künstlich geweckt werden muß, ist nicht nur ihr Wert, sondern auch der Sinn ihrer Herstellung fiktiv. In dem Maße wie dieser Herstellungsprozeß irrationaler wird, müssen der Künstler und der Kunsthandel ihr Anliegen ideologisch rechtfertigen. Diese Rationalisierungsstrategien, die als Anliegen der Künstler und als Sinn der Kunst über die Massenmedien verbreitet werden, sind ebenso der Dialektik der Mode unterworfen und führen letztlich zu einer weiteren Desorientierung und damit wiederum weiterer Manipulierbarkeit des Kunstbegriffes.
Wenn man heute schon von einer Säkularisierung der Information spricht, bei der die Information von ihrer ideologischen Instrumentalisierung befreit wird, aber nicht Wahrheitsgehalt und Wichtigkeit ihre Verbreitung bestimmen sondern Verkäuflichkeit unter dem Konkurrenzdruck, dann kann mit vollem Recht ebenso von einer Säkularisierung der Kunst gesprochen werden. Damit ist die Kunst endlich so frei eine Ware zu sein. Frei wie der zum Tagelöhner entlassene Leibeigene. Nur der Künstler hat es nicht gleich begriffen, noch hat er sich dafür geschämt auf den Markt zu schielen, Reklame für sich zu machen und verkäuflich zu sein, denn ethische Werte bauen sich nicht gleich ab, sie werden noch ein paar Generationen weitergegeben. Erst die heutige junge Generation ist frei von Skrupeln und kann sich ohne Rechtfertigungsdruck dem Markt widmen; der Bruch ist vollzogen: der Idealismus ist nunmehr als sinnloses Pathos disqualifiziert. Die Kunst hat sich von dem Hauptanliegen, der Schilderung von Wahrheiten, Hoffnungen, Kritik oder einer ästhetischen Maxime verabschiedet. Sie ist pragmatisch geworden ohne praktisch zu sein. Mit letzterem soll behauptet werden, daß weder die Produktion die Distribution noch die Konsumtion die Kunst als Selbstzweck hat. Sie ist in mehrfacher Hinsicht unpraktisch: der Künstler schafft was der Markt fordert, (sollte er den weitverbreiteten Glauben haben er male als Therapie ist sie ebenso unpraktisch: sein Problem wird bestehen bleiben), der Galerist verkauft was er verkaufen kann und der Konsument ist im selteneren Fall jemand, der sich ein Bild über das Sofa hängt weil es ihn erfreut sondern vielmehr einer der das Kunstwerk als Werbeträger braucht. Sein Erwerbszweck ist nicht das Kunstwerk selbst sondern die Profitmaximierung der Firma und für diesen Zweck spielt das Kunstwerk nur insofern eine Rolle, daß es im Bewusstsein einen Wert verkörpert, er kauft also mehr ein Stück Ruf des Künstlers als das Werk. Diese Logik ist längst beim Künstler angekommen und er weiß, daß er nicht vorrangig in den Ausbau seiner Fähigkeiten und seiner technischen Möglichkeiten investieren muß, um erweitert zu reproduzieren, sondern sein Kapital ist sein Ruf. Aber sein Ruf ist nicht nur seine Berühmtheit sondern auch seine Berüchtigtheit, seine Auffälligkeit, die Besonderheit seiner Lebensgeschichte, die Gigantomanie seiner Projekte, die mehr Gesprächsstoff liefert — kurz: sein Mythos den es ihm zu verbreiten gelingt.
Wenn ich anfangs sagte, daß die Verhältnisse hier anders sind als beim Brot meinte ich Brot im Sinne eines reinen Nahrungsmittels, welches gebraucht wird mit oder ohne Mythos. Aber auch hier erzeugt die Effektivierung der Produktion eine Überproduktion und der Verkäufer muß dem Kunden klarmachen warum er genau dieses Nahrungsmittel kaufen soll, es muß sich auszeichnen gegenüber einem normalen. So wird es esoterisch angereichert und die Folge ist eine zunehmende Verblödung: brauner Kristallzucker ist Natur, weißer ist Chemie, aber Honig ist überhaupt ein Wundermittel — womit wir wieder zurück bei Beuys sind.
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Mythos
Es ist eine alte Erkenntnis, daß immer die jeweils neue Kunst provoziert hat. Ja es lässt einem das Herz höher hupfen, wenn man sich vorstellt, daß die aufgebrachten Besucher der ersten Impressionisten-Ausstellung 1874 im Salon eines Photographen versuchten, die Bilder mit ihren Regenschirmen zu zerstören. Waren die Wörter »Impressionisten« und noch »Fauvisten« von Gegnern zur Beschimpfung erfunden und der provozierende Gehalt der Kunstwerke eine Begleiterscheinung des Neuen, setzten die Expressionisten die Provokation bereits gezielt ein. Die Kunstwelt hatte sich schon daran gewöhnt, Neues zu fordern; die von Beginn an hohen Preise der »Brücke« zeugten davon, daß sie sich bewusst waren, welche Rolle sie spielen. Heute ist es zum absoluten Dogma geworden, daß ein Kunstwerk was nicht als kitschig abqualifiziert werden will, sich provokativ gebärden muß. Doch was ist heute noch provokativ?
Man kann die Wände einer Galerie mit Blut und Sperma beschmieren, sich die Haare ausraufen und draufkleben, das Publikum und die Medien werden reagieren wie im Kunsthaus Müller in Irenusz Iredynskis »Manipulation« oder aber mit der typisch gedämpften Anerkennung: irgendwie interessant, es hat was.
Selbst Hermann Nitsch provoziert nur noch die Kirche, Rechtsradikale oder Tierschützer.
Und dennoch zeigen sich manchmal der Kunstbetrieb und die Medien auf eine Weise, die nahe legt, daß sie provoziert, daß sie in ihrer routinierten Apathie gestört wurden: durch Pathos. Denn das ist noch nach wie vor angsteinflößend: ein Bekenntnis zum Leben, zur Nächstenliebe, zur Zukunft in der vieles besser wäre als heute, zur Wahrheit, zum Glauben daß der Mensch die Entfremdung überwindet, eins wird mit sich, mit anderen und mit der Natur — eben Einheit herstellt mit dem Universum ohne Religionen; man wendet sich gewöhnlich peinlich berührt ab.
Auch hier haben die abstrakte und besonders die informelle Kunst Dienste geleistet, dem Ideologen Argumente gegen das Pathos zu liefern. G.-W. Kölzsch schreibt im Katalog »Positionen« wie W. Baumeisters Buch »Das Unbekannte in der Kunst« die junge Nachkriegsgeneration ermutigt hat. »Und sie bedurften dieser Ermutigung, denn ihr Weg führte sie mit nahezu unausweichlicher Notwendigkeit in die ungeebnete, aber auch nicht vorbelastete ungegenständliche Bilderwelt, da die gegenständliche Kunst sich in ihren Augen offensichtlich so leicht an die Macht hatte verkaufen und als Sprachrohr pervertierter Ideale missbrauchen lassen.«
Woher auch immer diese unausweichliche Notwendigkeit kam und welche gegenständliche Kunst außer die der Nazis sich an die Macht verkaufen lassen hat und wieso die ungegenständliche davor mehr gefeit sein sollte bleibt unklar aber sicher ist, daß solche Sätze politisches Wunschdenken transportieren. Das Pathos im gesellschaftlichen Ziel war im Osten, der Westen hatte es eher mit der Technik. Tja, Pathos oder Apathie. Die Argumentation gegen Konzepte und Pathos als Folge des Argwohns gegen Konzepte wegen derer allzu häufiger Benutzung als Rationalisierung ist selbst wiederum eine Rationalisierung: nämlich die Rationalisierung der aus Konzeptlosigkeit resultierenden Anpassung. Ich denke, daß heute in der Wegwerfgesellschaft gerade das Pathos provozierend ist. Der angepasste Intellektuelle, der lächelnde Skeptiker — abgeklärt, snobistisch, pluralistisch oder nihilistisch — der mit weisem Grinsen dem kindlich-naivem Pathos, da es ihn ängstigt, wenn es authentisch ist, feindlich gegenübersteht, der aufgrund seines Skeptizismus′ keinen festen Boden findet und so ihm nur die Anpassung bleibt, fühlt sich provoziert durch das Gute und verurteilt das Pathos als kitschig, plump, vordergründig und als angepasst. In diesem Urteil aber liegt wohlkalkulierte Aggression, die mit freundlicher Oberflächenspannung gemeistert wird, denn er muß cool bleiben, damit der Mechanismus sich rationalisierender Anpassung ohne Unwucht läuft. Wenn er Erregung zeigt, ist sein Provoziertsein eingestanden. Er ist doch selbst — glaubt er — der Provozierende und provoziert werden gewöhnlich kleinbürgerliche Spießer. Beherrscht bleibend zeigt er sich als Fachmann, der das Pathos zerschlägt. Das ist wirkungsvoller.
Wenn
du ihm das zu erklären versuchst, hat er Mitleid mit dir.
Dabei
lohnt es sich, wenn man schon von Intellektuellen redet, sie in moderne und
postmoderne zu unterscheiden.
Die
Art, wie der moderne Intellektuelle — um zwei Beispiele zu nennen: »Die Welt
als Phantom und Matrize« von Günther Anders in »Die Antiquiertheit des
Menschen« und »Kulturindustrie« von Horkheimer und Adorno in »Dialektik
der Aufklärung« — es lohnt hier nicht ein Wort oder einen Satz zu zitieren,
die Texte sind insgesamt zu brillant — sich äußert, nämlich in einem
ergrimmten Pathos, in einem derartigen Betroffensein, lässt das Ausmaß ahnen,
welches Leid es bereitet, das Leben zu lieben.
Gerade
diese Doppelbedeutung von Leben und Leiden drückt kein Wort besser aus als
Pathos. (Und wenn man es mit anderen teilt: Sympathie und sympathy.)
Obwohl
der postmoderne Intellektuelle die Event-Kultur (von Pop bis Karneval) als
Massenkultur, kitschig, unverhüllt kommerziell und geistig primitiv verachtet,
liebäugelt er mit einem Ausflug dorthin. Ja, er besteht sogar darauf, sie zu
tolerieren als ein Terrain zum lustvoll-lasziven Fremdgehen, was mit dem
Nachhausekommenmüssen versöhnt und ihm sein Zuhause in distinguierte
Höhe hebt. So ist er im allgemeinen außerhalb und manchmal mit von der
fröhlichen Partie, aber nie betroffen. Wenn er mit Leben und Leid konfrontiert
wird, mit sich aufbäumenden Pathos, will er sich ins Betroffensein um keinen
Preis hineinziehen lassen und reagiert mit genervtem Widerwillen, mit lächelnder
Überheblichkeit oder mit sachlichen Rationalisierungen. Ob er nicht sogar die
Event-Kultur als Keule gegen Pathos und Betroffenheit instrumentalisiert? Gut,
lassen wir das Pathos und hoffen auf den Tag, an dem selbst wir über solche
Abhandlungen nur noch sagen können: »welch überflüssiges
Pathos«.
Unterscheiden wir zwischen zwei Arten von Intellektualität im Kunstwerk, die auch zugleich auftreten können, haben wir es im ersten Fall mit einem Werk zu tun, dessen Idee wir wahrnehmen können — im Beispiel der Malerei sehen können — und im zweiten Fall mit einer Idee zu tun, die wir wissen müssen, da sie als Information in das Kunstwerk importiert wurde, die sich uns manchmal erst über den Titel erschließt.
Zum ersten Fall gehören alle formalistischen Ideen zu deren Verstehen oder Wertschätzung wir lediglich das Erschaffungsdatum wissen müssen. Und es gehört auch der psychisch-expressive Ausdruck des Werkes hier hinein, der in der Malerei über Formen und Farben und in der Musik über den dramatischen Aufbau von Lautstärke, Rhythmus, Dissonanz und Harmonie, also direkt und unbewusst auf den Rezipienten einwirkt, Emotionen auslösend. Schon metaphorische Inhalte gehören nicht in diese Kategorie, da Gleichnisse Kenntnisse voraussetzen und über ganz andere Kanäle wahrgenommen werden oder eben überhaupt nicht wirken, falls die Metapher nicht entschlüsselt werden kann.
Als ein Beispiel für eine formalistische Idee soll ausgerechnet van Gogh dienen, von dem doch die meisten annehmen, er hätte voll aus dem Gefühl heraus gemalt. Am 30. Juni 1888 schriebt er über ein vollendetes Bild: »aber mit der Wahrheit der Farbe habe ich es nicht so genau genommen.« Bis zum 11. August 1888 berührt er in Briefen das Thema immer wieder und schreibt an jenem Tage an seinen Bruder Theo: »Ich werde jetzt der eigenmächtige Kolorist sein.« Hiermit ist seine Entscheidung gefallen nicht mehr der Natur zu gehorchen sondern den ästhetischen Gesetzen zum Erreichen einer bestimmten Wirkung, was nicht heißen muß, daß er selbst alles durchschaut hat. Im November 1888 folgt das Bild »Die roten Weingärten«. Die Farben weichen vom Naturvorbild ab und sind durchaus intellektuell gesetzt. Vom Vordergrund erfolgt eine Steigerung der Farbe von blauviolett über weinrot, rotorange bis zum gelborange am Ende der Weingärten, die dort wie Kornfelder aussehen. Die Baumreihe, die links und dahinter verläuft, ist nicht grün sondern blau, was die Strahlkraft der Felder erhöht.
Mit weniger sozialen, sondern eher naturwissenschaftlichen Motivationen »machte sich unmittelbar nach dem Fall der Mauer der bis dahin in Düsseldorf lebende Künstler (Mario Reis) auf den Weg in den anderen Teil Deutschlands, um dort an den Flüssen zu arbeiten. Innerhalb weniger Monate durchkreuzte er die ehemalige DDR und legte an zahlreichen Orten auf Keilrahmen gespannte Baumwolltücher in die Gewässer, die darin mehrere Tage verweilten.« — »Die Resultate dieser Art von ,Spurensicherung′ thematisieren Material und Zeit der Gewässer. Sie besitzen eine ganz eigene naturimmanente Ästhetik und zeigen in mehr oder weniger starken Ablagerungen von Sand und Gesteinsarten« — »ein Spektrum einer breiten Skala von erdigen Tönen und Grauabstufungen. Ihre zarten Schattierungen nahezu transparenter Kompositionen (hervorgehoben T.M.) bis hin zu monochromen Erscheinungen können für den Betrachter etwas Transzendentes haben. Ist dies nicht vielleicht doch eine zeitgemäße Umsetzung der gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden Landschaftsauffassung, die in der Natur das Transzendente entdeckte? Dann wäre Mario Reis ja ein Landschaftsmaler ... Susanne Anna« Wasser — Ein interdisziplinäres Projekt der Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz, 1994. Was man wahrnimmt ist schmutziges Papier, zum Teil reizvoll nuanciert. Ist das schon Kunst? Die Tatsache, daß bei mir manche Wände so aussehen, hat auch noch keiner als Kunst gewürdigt. Für eine geowissenschaftliche Forschung scheint es jedoch auch nicht zu taugen: es fehlt die Systematik und vor allem eine Auswertung. Da der Zufall hier der Hauptakteur ist, kann man glauben, die Natur hätte die Werke geschaffen, aber dann wären es keine Kunstwerke, denn Kunst ist ein Teil der Kultur und Kultur ist exakt das, was nicht Natur ist. Oder ist es politisch gemeint? Die schmutzigen Flüsse im Osten? Hier wird über die Grenzen der Disziplinen hin- und her- und weggesprungen (es ist schließlich ein interdisziplinäres Projekt) je nachdem von woher die Kritik kommt, die Hecke bietet Schutz. Und es ist eben wie ein Kunstwissenschaftler sagte, mit dem ich mich darüber unterhielt: »das Problematische an solcher Kunst, daß man sie übers Telefon berichten kann, man muß sie nicht erst sehen.« Der Künstler hätte sich also auch die Arbeit sparen können. Aber die Blätter waren zumindest schön.
Kernanliegen des Projektes ist das Phänomen der Synthese in ihrer prinzipiellen Unterscheidung zur Mixtur. Gerade in letzter Zeit sieht sich der Kulturkonsument mit einer Modewelle von Projekten konfrontiert: grenzüberschreitend, interdisziplinär, multikulturell, crossover usw., die alle auf den Vorgang einer Verschmelzung verweisen möchten. Doch nicht jedes Projekt solcher Art hat wirklich etwas mit einer Synthese zu tun. Der größte Teil postmoderner Kulturäußerungen ist eher ein Aneinanderkleben verschiedenster Genre-Zitate. Die Wörter Synthese, Verschmelzung oder Fusion beanspruchen eigentlich den Vorgang der Vereinigung von mehreren gegensätzlichen Bestandteilen als dialektische Aufhebung zu beschreiben. Die Einzelteile verlieren ihren streng eingegrenzten Charakter, ihre Existenz wird aufgehoben im dreifachen Sinne: von beendet, von auf eine höhere Ebene gehoben und von im neuen Verschmelzungsergebnis konserviert. Das Problematische ist, daß es zwar einerseits nie umfassende Wahrheitsfindung ohne die Synthese geben wird, weil erst die synthetisierten Erkenntnisse den größeren Gültigkeitsbereich haben, andererseits die Synthese aber weit weniger spektakulär als die Analyse (durch ihre radikale Beschränkung) oder die Mixtur (durch ihre schroffen Brüche) in Erscheinung tritt. Da heute zur Verbreitung fast jeglicher Idee ein gewisses Marketing notwendig ist, wird es zum Handicap für eine wichtige Sache, wenn sie ausgesprochen unspektakulär ist. Aber die Tatsache, daß ein Bedarf an Synthese herrscht, wird gerade durch die oben genannte Mode bestätigt — nur hat diese hier wie überall das Merkmal, daß sie zwar auf einen Mangel hindeutet, den sie abzuhelfen verspricht, jedoch ihn dabei vergrößert.
Soll ein komplexer Sachverhalt in seinem Wesen der gegenseitigen Abhängigkeiten der Einzelbestandteile als Gesetzmäßigkeit wiederspiegelt werden, muß dem eine Analyse vorangehen. So läßt sich beispielsweise die funktionale Abhängigkeit eines chemischen Reaktionsverlaufes vom Druck ermitteln unter Konstanthaltung aller anderen Einflußgrößen oder ebenso die Abhängigkeit von der Temperatur bei nunmehr isobarem Verlauf. Jedoch jede einzelne dieser Aussagen hat eine eng begrenzte Gültigkeit und ist praktisch wenig nützlich, da in der Realität die Konstanthaltung der Parameter selten möglich ist. Es bedarf eines umfassenderen Modells, das die relevanten Einflußgrößen zugleich erfaßt. Stehen diese zueinander auch noch in gegenseitiger Abhängigkeit (ist also z.B. der Druck eine Funktion der Temperatur), können solche Modelle oft nur als Differentialgleichung aufgestellt werden, deren Integration nicht immer leicht ist. Der der Analyse folgende Schritt der Synthese der Einzelabhängigkeiten ist häufig so schwierig, daß der mit dem Problem Konfrontierte sich gern auf eine komplex-gefühlsmäßige Interaktionsebene zurückzuziehen versucht. Doch die empirisch-intuitive Erfassung ist die von Ungewißheit geprägte Einheit vor der Analyse. Die Analyse zerstört diese Einheit, und die Synthese soll die Einheit auf einer wesentlich allgemeingültigeren Plattform wieder herstellen. Diese hier abstrahierten Zusammenhänge treten auf allen Gebieten auf.
Auch in der Malerei hat die Untersuchung formalistischer Einzelaspekte seit dem Impressionismus eine vorherrschende Stellung eingenommen. Ganz im Sinne einer Analyse wird von den Impressionisten die Unstetigkeit des von sich bewegenden Oberflächen reflektierten Lichtes in den Vordergrund gerückt. Die anderen malerischen Ausdrucksmittel werden nicht nur vernachlässigt, sondern wie von den Pointillisten als unzulässig behandelt. Gleiche Radikalität weist in seiner Endkonsequenz fast jeder Stil auf, nur, daß jeweils ein anderer Aspekt in den Fokus tritt. Streng genommen ist die Einzelverfolgung eines Aspektes nicht gleichzusetzen mit dem untersuchten Gebilde, also mitnichten ein Stil gleich Malerei.
Wie aber führt der Weg von der Analyse über die Synthese zurück zur Malerei? Denn wer die Hoffnung hat, indem er z. B. aufeinander bezogenen Dreiecke mit unterschiedlich bunten Pünktchen füllt, die Synthese aus Konstruktivismus und Impressionismus herzustellen, geht völlig fehl. Schon allein deswegen, weil er die in Erscheinung tretenden Attribute mit dem Wesen verwechselt. Die Synthese geht tiefer, sie verschmilzt die Wesen und nicht die Erscheinungen, sie führt zu etwas Neuem, und sie erreicht Homogenität. Wasserstoff- und Sauerstoffmoleküle ergeben ein Gasgemisch, in dem die Einzelbestandteile erhalten bleiben und bei genügend Nähe hat man es entweder mit dem einen oder dem anderen zu tun. Erst die chemische Reaktion, bei der sich die Elektronenhüllen gegenseitig durchdringen, führt zu einem Stoff mit neuen Eigenschaften, der homogen und immer dasselbe ist, nämlich Wasser.
Der Mensch hat a priori eine ambivalente Haltung zur Verantwortung.
Durch die Erkenntnis, ein Individuum und auf sich selbst gestellt zu sein, wird der Mensch aus der Geborgenheit urnatürlicher und sippenhafter Zusammenhänge herausgerissen. Das und das folgende gilt gleichermaßen für die Menschheitsentwicklung als auch für die Entwicklung jeder einzelnen Persönlichkeit. Die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu erkennen und seine Freiheit wahrzunehmen, würde ihn — wenn es den kindlichen Narzißmus nicht gäbe — in einen lebensbedrohlichen Konflikt führen. Denn, wenn er einmal anfängt, sich von der Welt getrennt zu sehen, wird ihm klar, daß die Welt riesig, machtvoll, undurchschaubar und zusammenhängend ist, aber er dagegen klein, machtlos, desinformiert und einsam. Kann und soll im Laufe der kindlichen und jugendlichen Entwicklung der Narzißmus seinen Schutz nicht mehr aufrecht halten, wird der Aufwachsende sukzessiv mit einer aus dem Unbewußten aufsteigenden Ahnung von Impotenz und Einsamkeit konfrontiert und er sucht nach Verdrängung oder Überwindung des Gefühls. Täglich kommt er mehrfach an den Punkt, sich progressiv oder regressiv in Bezug auf die Individuation zu entscheiden.
Progressiv heißt, daß er einen Einssein-Zustand in der Welt sucht und den Weg über die Verantwortungsübernahme findet. Zuallererst geht es dabei um die Verantwortung für sich selbst, aber unlösbar damit ist die Verantwortung für Gesellschaft und Natur verbunden. Dazu bedarf es der folgenden Fähigkeiten und Motive: ein breites Maß an Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, eine subversive kritische Kombinationsgabe, ein individuell herausgebildetes Gewissen, eine selbstkritische Haltung und eine warmherzige Anteilnahme am gesellschaftlichen und eigenen Geschick, was sich alles auch mit den Begriffen Wissen, Liebe und Kritik zusammenfassen läßt. Im Akt der Übernahme von Verantwortung identifiziert sich der Mensch mit der Welt, die auch seine Person einschließt. Das Problem der Trennung wird nicht verdrängt, sondern konstruktiv überwunden und der Mensch spürt diese punktuelle Vereinigung mit dem Universum als Glück, was ihn weiter motiviert diesen Weg zu gehen, der ihm ermöglicht, sich und seine Umgebung immer besser kennenzulernen. So vollzieht er die tägliche Synthese als Herausforderung, Informationen und Anweisungen, die an ihn herangetragen werden, auf ihre Richtigkeit zu prüfen; festzustellen ob sie zu den eigenen Überzeugungen adäquat oder im Widerspruch sind und wenn letzteres, dann zu entscheiden, ob die neue Information oder die alte Überzeugung revidiert werden muß. Setzt dieser Prozeß konsequent und frühzeitig ein, hat der Mensch die Möglichkeit, »von innen nach außen« zu einer kompakten und konsistenten und deswegen selbstbewußten Persönlichkeit zu »kristallisieren«. (Ist dieser Kristallisationsprozeß unterbrochen und durch ledigliches Speichern und Ausführen ersetzt, wird es zunehmend schwerer zum gesicherten Ursprung zurückzufinden. Der so sich »bildende« Mensch muß sich mehr und mehr auf das Speichern der Informationen verlagern und der Schein seiner Persönlichkeit kann rasant wachsen, da die mühevolle Verifizierung unterbleibt, jedoch im Inneren wird er ausgehöhlt und voller Brüche.) Zusammenfassend kann man sagen, daß mit jeder gelungenen Übernahme von Verantwortung der Mensch individueller und gesellschaftlicher zugleich wird und damit noch fähiger und motivierter, Verantwortung zu übernehmen. Genau das ist der Weg, der in die Freiheit führt, wenn Freiheit nicht als bloße Unabhängigkeit mißverstanden wird.
Auch der regressive Weg sucht nach dem Einssein-Zustand der Welt, nur daß hierbei die Individuation und die Möglichkeit der Freiheit rückgängig gemacht werden sollen. Wird die Verantwortung als Überforderung angesehen, oder hat der Mensch keine ausreichende Motivation, versucht er sie zu delegieren, hätte aber das Problem, sich seines Getrenntseins von der Welt mit all dessen zur Verzweiflung führenden Folgen bewußt zu werden, stünden ihm nicht erprobte komplexe Verhaltensmuster zur Verfügung, die durch die Erziehung bereits präventiv mitgegeben wurden. Diese Verhaltensmuster, die in bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse führen, geben demjenigen Identität, der sich zu ihnen bekennt, lassen ihn an der entsprechenden Größe teilhaftig werden, erlösen ihn aus seiner Einsamkeit, nehmen ihm die Last der Verantwortung ab, da alles bereits für ihn organisiert ist, kurzum sie geben ihm die Illusion, daß alles sich zum Besten entwickelt, nur eines dulden sie nicht: eine kreative individuelle und gesellschaftsfähige Entfaltung. Und sie sind ausgesprochen vielfältig und miteinander verwoben. Ob es sich um Religion handelt, Konformismus, Nationalismus, Rassismus, Sadomasochismus, Nekrophilie oder den nicht abgebauten Narzißmus, es sind alles Krankheiten, deren Symptome nicht mehr auffällig sind, da sie schon längst selbstverständliche Teile unserer Kultur geworden sind und in zunehmende Vertiefung therapiert werden.
Auf ein Phänomen soll hier gesondert hingewiesen werden: die Spezialisierung. Der »Spezialist« versucht, auf einen äußerst beschränkten Teil des Lebens sein gesamtes Augenmerk zu richten, was ihn angeblich von der Verantwortung in anderen Lebensbereichen enthebt, jedoch ihn damit unfähig macht, sein Spezialgebiet realistisch in die Gesamtheit einzuordnen. Es handelt sich ja nicht nur um die Spezialisierung bei Wissenschaftlern, die zwar einen Epsilonbetrag der Welt zu 99 % kennen und vom Rest nichts verstehen wollen, sondern auch um die Spezialisierung auf nur körperliche oder nur geistige oder nur musische Tätigkeiten; aber am groteskesten ist die Spezialisierung, die Sportler sich antun, wenn sie bereit sind, ihren Lebensentwurf auf die Abfolge von 50 gutgeölten Handgriffen zu reduzieren, und in den Massenmedien wird deren Spezialistentum schmerzlich offenbart, wenn sie sich zu politischen Fragen äußern. Es ist nicht nur eine naive Hoffnung, wenn man glaubt, daß — da man ja seine Aufgabenstellung selbst gut erledige — die Gesellschaft dafür Sorge trägt, ob diese Aufgabenstellung überhaupt legitim ist, sondern es ist Verantwortungslosigkeit. (Dieser Satz gilt nicht nur fürs Militär.) Und es ist Raubbau an der eigenen Seele, denn das fehlende Einmischen in globale Prozesse trennt den Spezialisten vom Alltag und der Welt, und er zieht sich, in diesem Teufelskreis gefangen, ängstlich weiter in sein Spezialgebiet zurück. Gehen wir davon aus, daß nur durch ein der Verantwortung Gerechtwerden, welches der Mensch unzählige Male tagtäglich unter Beweis zu stellen hat, indem er seinen Weg neu bestimmt, indem er teilnimmt, sich weigert oder Neues kreiert, die einzige Möglichkeit gegeben ist, auf gesunde Weise mit der Welt zu verschmelzen, kann die Lösung für den Spezialisten nur folgende sein: seinen Horizont zu erweitern. Nun ist das meist nicht so einfach: die Paradigmen scheinen für sich — aber eben oft nur für sich allein — gültig zu sein und ansonsten im Widerspruch zu stehen. Faule Kompromißlösungen oder collagehafte Bastelarbeiten nützen hier nichts. Erst wenn der Befürworter auch seinen Gegner wirklich versteht, rückt eine Lösung im Sinne einer Synthese in greifbare Nähe. Wer jetzt argumentiert, daß der Mensch dazu sowohl auf allen Gebieten, als auch in deren Tiefe gebildet sein müßte, und das würde die Fortsetzung der heutigen Entwicklungsgeschwindigkeit gefährden, muß sich die Gegenfrage gefallen lassen, wer denn diese Entwicklungsgeschwindigkeit determiniert außer die wettrüstende Dynamik des Konkurrenzkampfes und woher der wohl kommt.
Zusammenhänge, wie sie zwischen Wahrheit, Verantwortung und Freiheit existieren, lassen sich theoretisch erörtern und diese Erörterungen sind vonnöten um ideologisierendem Mißbrauch zu begegnen. Jedoch ist es ein Fakt, daß Eindrücke, die der Mensch sinnlich wahrgenommen und mit den eigenen Gefühlen verarbeitet hat, stärkere Wirkung ausüben als reine Informationen und Theorien. Auch wenn nicht behauptet werden kann, daß es die Funktion der Kunst ist, solche Wirkungen in den Dienst der philosophischen Aufklärung zu stellen, muß ihr bescheinigt werden, daß sie hochgradig dazu befähigt wäre. Deswegen sollen die hier geäußerten Gedanken um das Konzept der Synthese nicht auf schulisch-didaktische Weise dem Rezipienten vermittelt werden, sondern im Rahmen eines Kunstprojektes, das Film, Malerei, Theater, Musik, aber auch erkenntnistheoretische und wissenschaftliche Betrachtungen vereint. Der Anspruch ist dabei nicht, daß alle Genres das gleiche Thema bedienen — das wäre gerade nicht im Sinne der Synthese — sondern vom gleichen Geist gespeist werden. Den großen Rahmen dafür bietet die Malereiausstellung unter dem programmatischen Titel Form-Farbe-Geste. Diese drei Begriffe sind die grundsätzlichsten Gestaltungsmittel in der Malerei. Die Form ist die Fläche, in der sich die Farbe ausbreiten kann und die mehr oder weniger spannungsreich in das Gesamtbild gesetzt wird. Die Farbe ist das, was die Formen voneinander unterscheiden läßt und ihnen das Maß an Präsenz verleiht. Und die Geste ist der aufgezeichnete Bewegungsvollzug, der von den physikalischen Eigenschaften der Farbmaterie und des Malwerkzeugs bestimmt wird, der die Form unterschiedlich klar aufbaut oder zerstört und durch seine Heftigkeit über das Temperament des Künstlers Auskunft gibt.
Die jüngere Kunstgeschichte kennt viele formale Erprobungen, auf einige dieser Gestaltungsmittel zu verzichten, um das Übrigbleibende in puritanistischer Weise ins Zentrum zu rücken, die sich, wenn sie Massenbasis erreichten, sogar zu epochalen Stilen herauskristallisierten.
Es
lassen sich im Sinne des Mengenbegriffes aus der Mathematik alle existierenden
Werke einer bestimmten Menge und damit auch jeweils entstehenden Schnittmengen
zuordnen.
So bildet z. B. die informelle Malerei, die konsequent auf die Form verzichtet, die Schnittmenge aus Geste und Farbe. Konstruktivismus, Photorealismus, Neue Sachlichkeit u.a. bilden die Schnittmenge aus Form und Farbe, da die Geste zugunsten eindeutiger Flächenbegrenzungen unterdrückt wird. Doch im Zentrum gibt es eine Schnittmenge, die von Werken repräsentiert wird, deren Gestaltung zugleich von intensiver Farbigkeit, starken spannungsreichen Formen und einer heftigen Geste charaktisiert ist. Allein schon hierin — selbst bei völlig abstrakten Bildern, ohne jeglichen erzählerischen Gehalt — liegt eine Aussage, die durchaus vom Rezipienten verstanden werden kann: nämlich daß ungestüme Heftigkeit und regelnde Ordnung keine Antagonismen sein müssen, sondern daß sie sich gegenseitig die Basis liefern können oder anders formuliert, daß Ordnung nicht immer einengend sein muß und Wildheit, die ins Amorphe verpufft, gerade keine nachhaltige Wirkung erzielt.
Die Auswahl für diese Ausstellung soll also Künstler treffen, in deren Werken die Mittel Form, Farbe und Geste zu einer Einheit verschmelzen und sich dadurch auch ein Konsens der Künstler untereinander ergibt.
Erst auf der Grundlage dieser Einheit kann die Verschiedenartigkeit der Verschmelzungsmöglichkeiten gänzlich wahrgenommen werden.
Diese Dialektik zwischen Einheit und Vielfalt bestimmt auch die anderen Veranstaltungen, die in den Kontext der Ausstellung einbezogen werden.
Zur Eröffnung wird eine graphisch notierte Komposition von einem Orchester aus Free-Jazz-Musikern improvisatorisch umgesetzt. Der Gedanke hierfür ergibt sich aus der Kritik des Free-Jazz. Markenzeichen dieser Musik war eine Wildheit, die Wutausbrüche und Umsturzgedanken nahelegte und es war kein Zufall, daß diese Musikrichtung ihren äußerst heftigen Durchbruch in Europa genau 1968 erlebte. Damals hat der Zuhörer noch begeistert Beifall gezollt, wenn er bei einem Konzert einen zweistündigen Daueralarm ertragen hatte. Jedoch das Publikum hat sich gewandelt und neue Anforderungen an die Jazz-Musiker gestellt. Man verlangt vom heutigen Jazz mehr Strukturen, doch die Folge ist, daß er dadurch bieder geworden ist — aus der Sicht des musikalischen Handwerks ist er meisterlich geworden, komplexe komponierte Passagen, die virtuos beherrscht werden, wechseln ab mit improvisierten Einschüben, in denen die hervortretenden Solisten mit rasanten Spielgeschwindigkeiten handwerkliches Können demonstrieren. Doch es erreicht nur das Niveau einer Mixtur und aus künstlerischer Sicht fehlt einem solchen Konzert eine komponierte Dramatisierung des musikalischen Geschehens. Eine Synthese aus Improvisation und Komposition darf nicht durch eine zeitliche Abfolge von Splittern versucht werden, sondern beides muß zugleich erfolgen und sich gegenseitig benötigen. Eine graphisch notierte Komposition für ein mittelgroßes Orchester kann die Aufgabe lösen, indem jedem Mitspieler eine zeitlich präzise Partitur gegeben ist, die Einsatz, Lautstärke und ungefähre Tönhöhe festlegt. Und dennoch muß er im Augenblicke des Geschehens — dazu ist er ja als Free-Jazz-Musiker befähigt — den konkreten Ton selbst finden.
Auch andere Veranstaltungen im Rahmen des Projektes werden die Problematik der Synthese und ihre Beziehung zu Verantwortung, Freiheit und Wahrheit berühren, ohne daß dies jetzt im einzelnen begründet werden soll. Der Unterhaltungswert einer solchen Veranstaltung ist zwar nicht das angestrebte Ziel, aber dennoch ein nicht zu unterschätzendes Mittel unter dem Aspekt der freiwilligen Rezeption.
Theaterstücke, die das Prinzip der Erlangung von Freiheit durch das Wahrnehmen der Verantwortung mit tiefstem Ernst behandeln sind »Die Fliegen« von J.-P. Sartre oder »Die Physiker« von Dürrenmatt. Auch das Drehbuch »Im Räderwerk« von Sartre wird dem völlig gerecht. Es wäre wünschenswert ein solches Stück aufzuführen.
Während der Ausstellung, die auf zwei Monate angelegt sein sollte, können wöchentliche Veranstaltungen erfolgen; einige seien hier genannt:
- Podiumsdiskussionen in Zusammenarbeit mit der TU Chemnitz, die Gemeinsamkeiten von Wissenschaft und Kunst zum Thema haben:
1. der Erkenntnisprozeß in Wissenschaft und Kunst
2. Trägt der Künstler / Wissenschaftler Verantwortung vor der Gesellschaft?
3. Der Mythos in Wissenschaft und Kunst. Seine Vermarktbarkeit und die ungeliebte Normalität.
- Aufführungen von Stummfilmen mit Live-Musik. Bei diesen Darbietungen kann der Zuschauer auf eindrucksvolle Weise erleben, mit welchem Einfühlungsvermögen und wirklicher instrumentaler Virtuosität der Musiker improvisierend die Stimmungen und das Geschehen des Films adäquat ins Musikalische transponiert. Auch dies ein Beispiel für das Prinzip der Synthese und darüberhinaus den Mut zum Verbindlichen, denn der Musiker unterwirft sich damit der Überprüfbarkeit seiner Qualität.
- 1968 hat es neben dem Durchbruch des Free-Jazz noch eine weitere Entwicklung in der Musik gegeben, die seitdem das Musikgeschehen weltweit, vielleicht sogar bis zum heutigen Tag beeinflußt hat. Der Gruppe Soft Machine gelang die Fusion aus den Kenntnissen der Ernsten Musik, der Hitze des Free-Jazz und der Kraft des Rockinstrumentariums. Leider löste sich diese Gruppe nach einigen Jahren wieder auf. Im Jahre 1999 gelang den Veranstaltern von Form-Farbe-Geste auf Schloß Augustusburg die Wiedervereinigung dieser Gruppe. Obwohl die wichtigsten Musiker aus diesem Umfeld inzwischen verstorben sind, gibt es andere, die den Geist weitergetragen haben. Es sollte versucht werden, ein solches Konzert als Höhepunkt des Projektes zu organisieren.
- Ganz im Geiste des gesamten Projektes, dem die Frage inhärent ist, wie weit Spezialisierung gehen kann bis sie in Verantwortungslosigkeit einmündet, ist als Abschluß der Ausstellung ein Preisausschreiben geplant, bei dem die Beantwortung der Fragen eine umfassende Bildung erfordert, aber auch ein intensives Beobachten von Natur und Gesellschaft mehr dient als das Studium der Massenmedien.
(Auszug
aus einem Brief)
...
Allerdings war es nicht nur Zeitknappheit bei mir, sondern Du hast mich mit
Deinem Text und der Auswahl auch vor ziemliche Probleme gestellt. Und es ist
auch jetzt nicht leicht für mich, so zu reagieren, daß Du mich richtig
verstehst. Dein Text ist noch das Einfachste: auf Verbales kann man verbal
reagieren; das habe ich getan und schicke ihn Dir mit meinen — ich hoffe, Du
hast was für Kritik übrig — Anmerkungen zurück. An der Künstlerliste
herumzumäkeln fällt mir schon schwerer, denn ich möchte mehrere Eindrücke
nicht erwecken:
1.
daß Du denkst: erst fragt er nach einem Kurator und dann will er doch
alles selbst bestimmen.
2.
daß ich, da ich selbst Künstler bin, irgendwelche Konkurrenzgedanken
anderen Künstlern gegenüber habe.
3.
daß die Liste meinen Geschmack nicht trifft.
Es
ist etwas anderes: jegliche Auswahl, die man trifft, basiert auf einem Prinzip — auch wenn sich der Auswählende über das Prinzip und dessen Existenz nicht
bewußt ist. Der Mensch kann fast nichts Zufälliges tun. Die Frage also, die
mich am meisten beschäftigt, ist: was war Dein Prinzip? Du hast zwar zwei
prinzipielle Äußerungen angegeben: daß sie sich der postmodernen Beliebigkeit
entziehen und am Elementaren arbeiten. Doch das ist mir zu vage. Wohin
entziehen sie sich? Gibt es da einen Standpunkt oder nur eine andere
Beliebigkeit — statt der postmodernen? Es sind nämlich dummerweise ein paar
unter Deinen Nominierten, die mir — ausgehend von dem, was ich von ihnen kenne — nicht weniger beliebig als der Rest der Maler vorkommen.
Doch
nebenbei hast Du auch noch eine ganz andere Frage aufgeworfen: Was ist denn das
Elementare? Geht es um das Elementare in der Kunst? Das Elementare in der
Malerei z.B. wäre für mich zuallererst das, was auf dem Werk tatsächlich
vorhanden ist, und was wir auch unmißverständlich wahrnehmen können. Nämlich
die Formen, die durch die Farbe ihren Inhalt bekommen und durch
Farbunterschiede überhaupt erst zur Form werden. Die Farbe, die durch
die Geste des Malprozesses aufgetragen wird. Und eben diese Geste, die
jeweils die Form stabilisieren oder erzeugen oder deformieren kann. Das ist für
mich das Elementare und auch der eigentliche Inhalt von Bildern. Es ist auch
das, was die primäre Wirkung auf die Psyche ausübt. (Dabei darf man neben Form
und Farbe die Geste nicht unterschätzen, sie geht direkt auf den Betrachter über
und sagt auch viel über das Temperament des Künstlers aus.) Aber das
Wichtigste ist die Einheit zwischen den drei Elementen. Z.B. kann ein Bild mit
extrem heftiger Geste, die aber so eingesetzt ist, daß sie Formen nicht zerstört,
sondern die gedachten, geplanten Formen, die erst noch gemalt werden sollen,
respektiert oder sogar aus sich heraus schafft, Kraft und Hoffnung im
Rezipienten erzeugen, besonders dann, wenn die Farben nicht bunt und beliebig
gewählt sind, sondern untereinander in gewisse Zusammenhänge gebracht werden,
die für den Betrachter logisch nachvollziehbar sind.
Deswegen
z.B. Kraft im Rezipienten erzeugen, weil er erlebt, daß Wildheit und Revolte
(die Geste) nicht prinzipiell destruktiv sind, sondern auch konstruktiv sein können,
und daß Ordnung (z.B. einer strengen formalen Komposition) nicht einengend sein
muß, sondern auch Grundlage schaffen kann. Er könnte erkennen, daß Gesetzmäßigkeit
Schönheit ist und Schönheit kein Kitsch. Das sind Erkenntnisse, die — wenn
er sie selbst sinnlich wahrnimmt — viel tiefer gehen, mehr
Wirkung haben, als würde man versuchen, das belehrend bewußt zu machen.
Ein
frei gewähltes Beispiel soll zeigen, daß hierin der eigentliche Inhalt eines
solchen Bildes liegen kann: Geängstigt vor der unterdrückenden und einengenden
Wirkung von Disziplin und Ordnung flieht ein Mensch in unverbindliche Unabhängigkeiten,
findet sich allein und impotent wieder. So sucht er nach Anlehnung und der Lösung
quälender Fragen: wo er seinen akzeptierten Platz findet, wer eigentlich
Verantwortung für ihn trägt und wohin er die Verantwortung, die ihm aufgebürdet
wird, delegieren kann. Als Antwort bieten sich ihm Hierarchie, Masse oder
Religion an, wovor er ja floh. Demgemäß erlebt er Wildheit und Ordnung
als unvereinbar.
Doch
wenn er spürt, mag es nur auf einem Gemälde sein, daß beide nicht nur
koexistieren können, sondern sich gegenseitig erzeugen, dann kann das für ihn
ein wertvoller Input sein. Der Inhalt hat sich ihm offenbart, ohne daß er das
bewußt verarbeitet hat. Hierin liegt auch die Identität von Inhalt und Form.
Ich hatte Uwe Kolbe vor 30 Jahren kennengelernt und er hat behauptet: Inhalt =
Form. Aber er konnte es mir nicht richtig erklären; gleich gar nicht an seinen
Gedichten. Vielleicht ist das hier eine Erklärung.
Dieses
inhaltliche Sichtbare (aus Form, Farbe, Geste) ist erst einmal unabhängig
von dem Erkennbaren, (wie z.B. Landschaft, Mensch oder Ding), welches
eine Teilmenge vom Sichtbaren ist. Und noch eine Stufe entfernter steht das Interpretierbare,
welches eine Teilmenge der anderen beiden ist. Journalisten, die einen Stoff
für eine Geschichte brauchen, überbewerten dieses Interpretierbare oft. Ich
finde, daß es sehr bedeutsam sein kann, aber für die Malerei nicht wesentlich
und elementar ist. Genauso wenig wie bei der Musik der Text.
Entsprechend
dieser Sichtweise finde ich es richtig, wenn wir für die Ausstellung Maler
finden, die am Elementaren arbeiten. Aber die, die ich von Deiner Liste dazuzählen
würde, sind genau die, die schon bei den vorangegangenen FFG-Ausstellungen
dabei waren (bzw. im Gespräch waren wie Hubertus).
Wenn
ich es also umgekehrt mache und von der Künstlerliste auf Dein Prinzip zu
schließen versuche, komme ich nicht auf Anhieb zu einer Lösung. Aber vorerst
scheint mir, daß wir unterschiedliche Prinzipien verfolgen. Und das ist der
Grund, warum ich mich einmische. Ich will das mal mit einem Beispiel erklären.
Wenn es sich ergibt, mit jemandem in den Urlaub zu fahren, muß ich am Anfang
mit ihm einen Konsens herstellen. Geht es darum, mit ihm zusammen
wegzufahren, kann er oder ich das Reiseziel auch wieder ändern wollen, wichtig
ist, daß wir zusammen bleiben. Besteht der Ausgangspunkt aber darin, daß ich
nach Mauretanien fahren will und frage, wer Lust hat mitzukommen,
dann werden die anderen Personen und deren Ausrüstung austauschbarer als das
Ziel. Und wenn ein anderer dann, der Skier mit sich rumschleppt, sich über
mangelhafte Schneeverhältnisse beklagt, erlaube ich mir, ihn an den Konsens zu
erinnern. Ich denke nicht, daß der eine oder der andere der bessere Konsens ist — wichtig ist nur, daß man weiß, welchen man getroffen hat. In unserem Fall
steht allerdings das Konzept als das Unverrückbare fest. Wenn die Künstlerauswahl
nachvollziehbar dem richtig verstandenen Konzept folgt, kann ich mir nicht
vorstellen, daß ich dann reinreden würde.
Allerdings
liegt hierin auch eine gewisse Dialektik zwischen Prinzip und Auswahl-Liste:
eigentlich sollte man vom Prinzip auf den Einzelfall schließen, doch oft wird
das Prinzip erst durch viele Einzelfälle plastisch erklärbar. D.h. man muß
sich iterativ dem Konsens nähern und dazu müßten wir — vorausgesetzt Du
hast noch Lust — uns zu einem Gespräch treffen. Es geht aber nicht nur
darum, daß mit Form-Farbe-Geste etwas Programmatisches im Hinblick auf das
Prinzip Synthese veranstaltet werden soll, sondern die Aktivitäten, die sich
die Stadt Chemnitz wünscht, sollen unter dem Thema stehen: »Jahr der
Wissenschaft«. Und für das Ausstellungsprojekt und einige darin integrierte
Veranstaltungen gilt das Anliegen: »Wissenschaft und Kunst«.
1.1.
Stufen der Suggestierbarkeit
1.5.
Hypnose und posthypnotische Aufträge
1.8.
Suggestion in der Malerei
1.8.1. Die wirkliche
Suggestivkraft eines Bildes
1.8.2.
Die Schaffung von Respekt durch Verstörung
1.8.3.
Die Wertübertragung vom Namen des Künstlers auf das einzelne Exemplar
1.8.4.
Die Wertübertragung vom Präsentationsrahmen auf den Künstler und damit
auf das Werk
1.9.
Die Alchemie des Kulturbetriebes
1.10.
Die Kunst als Mittel der Verstörung
1.10.1.
Identität des Eigentümers und seine Machtmanöver
1.10.2.
Die Akzeptanz des Unlogischen
1.10.3.
Überschwemmung statt Zensur
1.10.3.1.
Infragestellung von Qualitätsmaßstäben
1.10.3.2.
Flexibilisierung unserer Wegwerfgesellschaft
1.10.3.3.
genügend Produzenten
1.10.3.5.
Förderung durch Industrie
2.
Weigerung und Verantwortung
2.2.1.
Effizienz durch Schaffung von Bedürfnissen
2.2.2.3.
Aufeinandertreffen von Natur und Kultur
2.2.3.
Die thermodynamischen Übergänge eines Systems
2.2.3.2.
Erscheinung und Wesen
2.2.3.3.
Systemstabilisierungsenergie
2.2.3.4.
Das Wesen des Menschen
2.2.3.5.
Die adäquate Erscheinung
2.2.3.6.
Systemstabilisierungsenergie in der entfremdeten Gesellschaft
2.2.3.6.3.
Disziplin und Ordnung
2.2.3.6.5.1.
Die Vertauschung der Begriffe Kommunismus-Sozialismus
2.2.3.6.5.2.
Diktatur und Demokratie
2.2.3.6.5.3.
Freiheit als Wahlfreiheit
2.2.3.6.5.4.
Verleugnung des menschlichen Wesens
2.2.3.6.5.5.
Unsere Kultur — ein Exportschlager
2.2.3.6.5.6.
Zusammenfassung Ideologie
2.2.3.6.7.
Befriedigung der Pseudobedürfnisse
2.2.3.6.8.
Religion und Kirche
2.2.3.6.9.
Sozialmaßnahmen und Förderprogramme
2.2.3.7.
Überwindung des Potentialwalls
2.2.4.
Weitere Formen der Verschwendung
2.5.
Künstlerdilemma und Künstlerliste
Das
klingt eigentlich nicht neu. »Interdisziplinär«, »grenzüberschreitend«
sind ja schon seit Jahrzehnten beliebte Schlagwörter. Daß die
Einzeldisziplinen innerhalb von sich selbst überfordert sind und viele Probleme
nicht mehr lösen können, ist klar, aber die versuchte Synthese (deren
Extremfall Hermann Hesse im Glasperlenspiel formulierte) gelingt oft nicht. Es
erfolgt nicht die Verschmelzung der Wesen verschiedener oder konträrer
Dinge, sondern eine Aneinanderreihung der Erscheinungen. Postmoderner
Mix. Mehr darüber steht hier: →
(Die Bedeutung der Synthese)
So
findet man oft auch einen unglücklichen Spagat zwischen Kunst und
Wissenschaften: Der Künstler Carsten Nicolai sitzt an einem — wie U.
Hammerschmidt in einem Artikel in der Freien Presse umständlich als »
Leinwand für frequenzabhängige Kurven« beschreibt — Oszillographen.
»Seine Bilder sind klinisch weiße Zimmer oder pechdunkle Räume, in denen es
brummt und zischt. Wannen voller Milch oder Wasser stehen auf
Lautsprechermembranen, Töne schlagen Wellen, Schwingungen zeichnen sich auf den
Flüssigkeiten ab. Der Computer ist der Pinsel, seine Skulpturen setzen sich
zusammen aus Kabeln und technischen Geräten. Und das Atelier gleicht dem
Versuchslabor eines Wissenschaftlers.« Wo ist hier die Kunst? C.N.: »Da sehe
ich mich auf einer vollkommen anderen Seite, auf der Seite der Wissenschaft.«
Gut, daß ihm dieser Ausweg bleibt; Leuten gegenüber, die vielleicht von
Wissenschaft nichts verstehen. Einem aufrichtigen und ernsten Wissenschaftler
allerdings kann eine solche Inszenierung keine Freude über das Nachwuchstalent
entlocken, sondern löst eher Beklommenheit aus, weil sie eine völlig falsche
Auffassung des Wissenschaftlichen offenbart. Denn das Wissenschaftliche liegt
nicht im Instrumentarium, sondern im Abstrahieren von der eigenen Person. Hier
aber ist das Gegenteil der Fall: der Versuch, einen narzißtischen Anspruch
durchzusetzen. Letztlich kann sich vielleicht der Wissenschaftler damit trösten,
daß es ja doch eigentlich Kunst sein soll, was er da sieht.
Bemerkenswert
ist in diesem Zusammenhang, daß in den Industriestaaten ein großer Teil der
Bevölkerung die Wissenschaft dämonisiert. Einerseits wird sie als Urheber
diverser Gefahrenpotentiale verteufelt (Kernspaltung oder sogar -fusion,
Genmanipulation, chemische Produkte im Alltag und im Essen ...), obwohl die
Gefahren mit Sicherheit nicht von den Wissenschaftlern, sondern eher von der
Befriedigungslust der Techniker und noch viel mehr von ökonomischen Prämissen
ausgehen. Und andererseits macht es dieser Bevölkerung Spaß, über
wissenschaftliche Theorien zu plaudern (Chaostheorie, Quantenmechanik, Relativitätstheorie,
Genetischer Code ... ) bei kategorischem Ignorieren aller notwendigen Grundlagen.
Dieser Widerspruch wird besonders hier zusammengeballt: chemtrails, cloud
boosters, mindcontrolling aus dem All ...
Für
mich stellt sich das wie eine Haß-Neid-Beziehung dar, die diese Menschen gegenüber
der Wissenschaft aufgebaut haben. Sie erahnen die Herrlichkeit
wissenschaftlicher Forschung, aber auf Grund mangelnden Verständnisses fühlen
sie sich ausgeschlossen, können nicht an der Aufklärung des großen
wissenschaftlichen Geheimnisses teilhaben, stehen der Wissenschaft argwöhnisch
gegenüber und würden doch gerne mitspielen.
Um
dem Anliegen »Wissenschaft und Kunst« näher zu kommen, sehe ich eher den
Weg darin, gemeinsame Probleme und Aufgabenstellungen zu
beleuchten, wie z.B. Erkenntnis oder Verantwortung.
Neben
der Frage, wie der Erkenntnisprozeß abläuft, also wie sich die Realität in
unserem Bewußtsein abbildet, mit welcher Präzision, unter welchen
Randbedingungen diese Abbildungen Gültigkeit behalten, welches Maß an Präzision
und Gültigkeit notwendig ist, stellt sich die Frage, inwieweit diese
Abbildungen deformiert sind und worin die Motive für derartige Deformationen
liegen. Das führt uns zur Frage nach der Suggestierbarkeit des Menschen. Die
Suggestierbarkeit, Grundlage sowohl für den Aberglauben der einen, die Macht
der anderen und deren Aberglauben an den Nutzen ihrer Macht, kann Wahrnehmungen
verändern, ausblenden und sogar erzeugen. Weil die Suggestierbarkeit viel mit
Kunst, die ohne die Suggestivwirkung gar nicht auskommt, zu tun hat, weil sie,
was ebenso unser Thema betrifft, der wichtigste Gegenspieler der
Wissenschaftlichkeit ist, und weil sie, wenn sie bis zur Gehirnwäsche geht,
auch sehr gefährlich werden kann, und aus diesen drei Gründen ein enormer
Einflußfaktor nicht nur auf Kunst und Wissenschaft, sondern darüber hinaus auf
das politische und wirtschaftliche Leben ist, soll diesem Komplex entsprechende
Beachtung geschenkt werden.
1.1.
Stufen der Suggestierbarkeit
Eine
Beobachtung, die ich immer wieder selbst gemacht habe, und deren Verifizierung
ich meiner Beschäftigung mit Psychoanalyse verdanke, ist, daß der Mensch auf
Befehl fast alles glaubt und darüberhinaus Empfindungen und Erinnerungen ohne
jede originäre Grundlage kreiert, wenn von ihm der Befehl als solcher nicht
erkannt wird. Es ist genauso interessant wie schockierend, wenn man sich mit
diesbezüglich gemachten Experimenten beschäftigt. Ich meine nicht die
Experimente der CIA an amerikanischen Soldaten unter LSD-Einfluß, sondern eher
recht harmlos anmutende Experimente an völlig normalen Mitmenschen unter
keinesfalls zwanghaften Bedingungen; z.B. die von Elizabeth Loftus. Ihr ging es
um die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen und natürlich in diesem Zusammenhang
um unser Erinnerungsvermögen mit und ohne versteckte Einflußnahme. Zur
Illustration mal ein paar Beispiele:
1.
150 Versuchspersonen (VP) sehen einen Kurzfilm über einen Verkehrsunfall. Der
Schuldige überfährt ein Stoppschild. Danach beantworten sie einen Fragebogen
mit 10 Fragen, von denen nur die erste und die letzte relevant sind. 75 VP
erhalten als erste Frage: »Wie schnell schätzen Sie den schuldigen Fahrer,
als er rechts abbog?« und als letzte Frage: »Sind Sie sicher, ein
Stoppschild gesehen zu haben?« Die anderen 75 VP erhalten einen Fragebogen,
der sich nur darin unterscheidet, daß die erste Frage lautet: »Wie schnell
schätzen Sie das Auto, als es das Stoppschild überfuhr?« Von der ersten
Gruppe antworten auf die letzte Frage 35 % mit ja, von der zweiten 53 %.
Bei einem Drittel dieser VP kommt demzufolge die Sicherheit nicht durch die
Beobachtung, sondern durch die Suggestion.
2.
40 VP sehen einen Ausschnitt eines Films, in dem acht demonstrierende
Studenten eine Vorlesung stürmen. Danach beantworten sie einen Fragebogen, der
neben 19 anderen nur eine relevante Frage enthält, für eine Hälfte der VP:
»War der Anführer der vier Demonstranten männlich?« Für die
anderen 20 VP: »War der Anführer der zwölf Demonstranten männlich?«
Nach einer Woche beantworteten die 40 VP nochmals einen Fragebogen, worin die
Frage nach der Anzahl der Demonstranten gestellt wurde. Wie zu erwarten,
gab es signifikante Unterschiede. Die eine Gruppe meinte im Durchschnitt sechs,
die andere neun gesehen zu haben.
3.
150 VP wurde wiederum ein Film mit Verkehrsunfall gezeigt. Anschließend wurde
um das Ausfüllen der Fragebögen gebeten, von denen je 50 in drei leicht
verschiedenen Varianten ausgeteilt wurden, ohne die Befragten auf die
Unterschiedlichkeit hinzuweisen.
Gruppe
1: nur 40 Füllfragen
Gruppe
2: 40 Füllfragen + 5 relevante Fragen, die jeweils direkt nach einem
Filmdetail fragten, das nicht im Film vorkam, wie z.B.: »Haben Sie die
Scheune gesehen?«, »Haben Sie die Schranke gesehen?«
Gruppe
3: hier waren die 5 relevanten Fragen nicht direkt sondern als manipulierende
Voraussetzungen formuliert, wie z.B.: »Parkte der Bus vor der Scheune?«,
»War die Schranke am Bahnübergang geschlossen?«
Als
nach einer Woche allen VP die Fragen nochmals vorgelegt wurden, diesmal
einheitlich mit der direkten Nachfrage (also wie Fragebogen Variante 2),
gaben von Gruppe 1 durchschnittlich 8 % an, sich an die fünf nicht
vorhandenen Filmdetails zu erinnern, von Gruppe 2 waren es 16 % und von
Gruppe 3 lag der Durchschnitt bei 30 %
4.
Von den Eltern brachte man drei Kindheitserlebnisse der VP in Erfahrung. Der
Experimentator fügte ein frei erfundenes viertes hinzu und bat die VP
detailliert über alle vier Ereignisse von damals zu berichten. Obwohl die
Wahrscheinlichkeit, daß er ein Erlebnis erfunden hatte, was die VP zufälliger
Weise tatsächlich erlebt hatten, sehr gering ist, konnten die VP über alle
vier Erlebnisse gleichermaßen detailgetreu und emotionsgeladen berichten.
Ich
habe diese vier Experimente ausgewählt, weil sich die einzelnen Stufen der
Suggestion demonstrieren lassen.
1.
Die Suggestion kann etwas wachrufen, das man gesehen hat, aber nicht
wahrgenommen.
2.
Die Suggestion kann das Gesehene und Wahrgenommene verfälschen.
3.
Die Suggestion kann die Einbildung nicht gesehener Dinge hervorrufen.
4.
Die nicht existierenden Dinge können zum Leben erweckt werden.
Harmlos
nannte ich diese Dinge in Bezug auf ihre Ausprägung (immerhin ging es nicht um
Mord und Totschlag), aber harmlos sind sie schon lange nicht mehr in Bezug auf
ihre flächendeckende Anwendbarkeit, besonders dann, wenn man bedenkt, wie groß
das Maß der Autosuggestion ist, die noch hinzukommt. Vor allem, da wir ja von
uns selbst kaum in Erfahrung bringen können, welche unserer Überzeugungen und
Emotionen auf realen Grundlagen basieren und welche unwahr sind. Nimm folgendes
Beispiel: An einer Küste trifft ein Tourist einen Fischer, der gerade vom nächtlichen
Fang zurückkehrt und dem Touristen seine Ansicht mitteilt, daß es heute noch
regnen werde. Der Tourist, der früh im Hotel Nachrichten und Wetterbericht im
Radio gehört (und vermutlich wieder vergessen) hat, richtet seine Empfindungen
auf das Thema und sagt dann, er spüre das auch. Aber das ist der Irrtum. Er
glaubt, es zu spüren, aber er kann es nicht mehr spüren, wenn er es bereits
weiß. Er hat vielleicht nicht einmal eine Vorstellung davon, wie es ist,
soetwas zu spüren, da ihm die lebenslangen Erfahrungen des Fischers fehlen und
er bisher immer die Information früher konsumiert hat, als er eine
Hypothese und deren Verifizierung hätte aufstellen können. Natürlich sind
Suggestierbarkeit und Autosuggestion nicht bei jedem Menschen gleich ausgeprägt
und hängen von vielen Faktoren ab: Umstände, Kritikvermögen, Selbstbewußtsein,
Grundsatzüberzeugungen, aber besonders wichtig ist die Frage, inwieweit eigene
Motivationen durch die Suggestion befriedigt werden. Ein amüsanter Vorfall,
den ich schon einige Male selbst beobachten konnte, ist folgender: Daß man,
wenn man schon einen öden Alltag hat, diesen durchbrechen will, ist verständlich,
und nichts ist besser geeignet, als ein Abenteuer, doch niemand ist für ein
Abenteuer schlechter geeignet, als der Mensch aus dem öden Alltag. In Tunesien
kann man das Abenteuer käuflich erlangen, wenn man einen Karawanenausflug
zwischen gefährlichen Felsschluchten, in denen die Räuber lauern, als
Reisegruppe bucht und sich allabendlich gemeinsam freut, daß man nochmals mit
dem Leben davon gekommen ist, wenn man sich dann 18 Uhr im Hotelrestaurant
trifft. Ja, auch Marokko ist geeignet, abenteuergeladen nach Hause zu kommen,
und deswegen reisen viele Touristen, wenn sie nun schon einmal den Flug nach
Agadir und das wochenlange Rumliegen am Swimmingpool in der Nähe des Strandes
auf sich nehmen, zum »Erg Chebbi in die Sahara«. Das ist ein 150 m
hoher Sandhaufen am Rande des besiedelten Geländes, den man auf einem Kamel
reitend einmal umrunden kann. Für alles, auch Übernachtung im Freien, ist
gesorgt. Ich denke, daß der Hauptlustgewinn darin besteht, sich auszumalen, wie
man das Abenteuer den Zuhausegebliebenen schmackhaft berichten kann. Trifft man
dann später diese Erg-Chebbi-Abenteurer, sind sie immer noch derartig aus dem Häuschen,
daß es ihnen schwer fällt, das Erlebte in Worte zu kleiden: absoluter
Wahnsinn, klare Luft, Wahnsinn, unfaßbare Stille — man hört sogar sein
eigenes Herz, totaler Wahnsinn, nie gesehene Dunkelheit — man kann die
Milchstraße sehen. Um das kostbare Erlebnis nicht zu zerstören, frage ich
nicht weiter, konstatiere aber, daß die marokkanischen Touristenführer sehr
einfühlsame Psychologen sind, wenn es ums Geschäft geht.
Das
ist es eben, daß wir Affekte verspüren wie Empörung, Freude, Schuld usw. und
diese mit irgendeinem Ereignis (durch oder ohne äußere Beeinflussung) als ursächlich
verknüpfen, wobei wir den Trugschluß aufbauen, daß die Stärke der Affekte
die Richtigkeit der Interpretation begünstigt. Das Gegenteil ist der Fall.
Nehmen wir einen Menschen, der voller Respekt eine Galerie betritt, auf ein Bild
zusteuert und freudestrahlend ausruft: »Ein herrlicher Grimmling«. Während
er glaubt, die Freude kommt daher, daß er die Stärke des Kunstwerkes genießt,
denke ich, daß die Freude des Betrachters im Erkennen der Urheberschaft ihren
Ursprung hat, mit der Beseitigung seiner anfänglichen Unsicherheit verstärkt
wird und im anerkennenden Nicken des Galeristen ihren Höhepunkt findet. Künstler
kennen diesen Fakt genau, auch der Kunstmarkt profitiert davon und fordert den
Wiedererkennungseffekt, die Kunst reduziert sich darauf, ein Logo zu entwerfen:
Ein Penck in der Stube ist wie ein Mercedesstern auf der Kühlerhaube. Vor
lauter Freude über das Erkennen und seinen eigenen künstlerischen Sachverstand
vergißt der Rezipient zu sagen: Mensch, der malt doch schon seit Jahren
dasselbe.
Wenn
man davon ausgeht, daß Lehre an Bildungseinrichtungen Wahres überzeugend
darstellen soll und sich deswegen grundsätzlich von Suggestion zu unterscheiden
hat, resultiert daraus auch die Forderung, daß der Kunsterzieher analytisch nachweist,
worin die herausragende Bedeutung der einzelnen Künstler besteht. Das kann er
aber, was die zeitgenössische Kunst betrifft, im Regelfall nicht. Er kann im
Einklang mit dem Lehrplan höchstens Biographisches berichten und des Künstlers
Bedeutung behaupten; eine Bedeutung, die, durch die Massenmedien
verbreitet, oft von den erzielten Auktionspreisen ausgeht. Aber gerade die
Auktionen sind das Gegenteil eines Gradmessers von Qualität. Ganz abgesehen
davon, daß die Käufer kaum noch der wirklichen künstlerischen Qualität wegen
kaufen, ist die Auktion eine völlig suggestive Angelegenheit, eine »perfekt
inszenierte Show« wie P. Dossi (Hype! Kunst und Geld) schreibt, »ist die
Auktion das Ergebnis einer bis ins Detail geplanten Strategie« inklusive der
Schätzpreise und vorher abgestimmter Gegenbieter. Und gerade der stattfindende
gesteuerte Emotionsaufbau beim Publikum und dessen Äußerung ist das, was auf
jeden Einzelnen wieder zurückwirkt und sich so verstärkt. Das kann man auch
Massenhypnose nennen.
Dazu
noch zwei reproduzierbare Beispiele: Zwei Versuchsgruppen erlebten, wie über
Monitor Namen aus dem Hamburger Telefonbuch vorgelesen wurden. Gruppe 1
reagierte mit gewisser Ratlosigkeit. Dagegen stimmte Gruppe 2, der die
Darbietung mit unterlegter Lach- und Beifallskulisse geboten wurde, in das Gelächter
und den Beifall mit ein.
Ein
anderes Beispiel bietet das Konformitätsexperiment von Solomon Asch: Einer
Reihe von Personen, unter denen sich nur eine VP befand, die allerdings im
Glauben war, daß alle getestet werden, wurde vom Versuchsleiter eine Serie von
jeweils zwei Tafeln gezeigt. Auf der einen Tafel waren immer drei
unterschiedlich lange Linien abgebildet und auf der anderen jeweils eine, die
exakt einer der drei anderen identisch war. Die Personen wurden befragt, welche
der drei dieser einzelnen Linie gleich ist. Die assistierenden angeblichen
Versuchspersonen gaben einstimmig ein Fehlurteil ab, dem sich die VP oft anschloß,
obwohl in einem Kontrollexperiment nachgewiesen werden konnte, daß die Aufgabe
eindeutig fehlerfrei zu lösen ist.
Ebenfalls
verstärkt sich die Suggestion, wenn sie von einer anerkannten Autorität
ausgeht. Ich nehme an, Du kennst das als Abraham-Test in die Geschichte
eingegangene Stanley-Milgram-Experiment. Falls nicht, möchte ich versuchen,
dieses umfangreiche Experiment zusammenzufassen, welches zwischen 1960 und 1970
in vielen Ländern durchgeführt und durch das Aufwerfen ständig neuer Fragen
in 17 weiteren Testreihen modifiziert wurde. Die Ausgangsidee bestand darin, daß
durch fingierte Losentscheidung zwei Personen in »Lehrer« und »Schüler«
eingeteilt wurden, so daß die wirkliche VP immer zum »Lehrer« wurde, der
»Schüler« war ein assistierender Schauspieler; dem »Lehrer« wurde erklärt,
daß der Gegenstand des Experimentes in der Frage besteht, ob durch Stromschläge
das Lernen verbessert wird, wenn Fehler sofort bestraft werden. Der »Schüler«
wurde an Elektroden festgemacht, am Sitz festgeschnallt, damit er sich nicht zu
stark aufbäumt, und der »Lehrer« saß vor einem Schock-Generator, mit dem
er Stromschläge ausführen konnte. Er sollte bei falsch gelernten Wortpaaren
die Spannung jeweils in 15 V-Schritten zunehmend erhöhen bis maximal 450
Volt. Im Raum war noch ein Versuchsleiter anwesend. Was der »Lehrer« nicht
wußte: daß er die eigentliche VP war (er dachte, der »Schüler« sei
die Versuchsperson), daß keine Spannung anlag (aber der schauspielende Schüler
mit Zuckungen und Schreien die Stromschläge imitierte) und daß die eigentliche
Untersuchung der Frage galt, wann und unter welchen Bedingungen sich der
»Lehrer« weigert, weitere Schocks zu verabreichen. Wenn der »Schüler«
protestierte oder flehte aufzuhören und der »Lehrer« sich fragend an den
Versuchsleiter wendete, übte dieser sanften Druck aus: »Es wäre schön, wenn
Sie fortfahren«. Machte der »Lehrer« viermal den Versuch abzubrechen oder
äußerte Zweifel am Sinn, dann sollte das Experiment beendet werden und man hätte
festgehalten, bei welcher Spannung die Weigerung erfolgte. Ansonsten wurde der
Versuch bei Erreichen der Höchstspannung als beendet erklärt. Danach fand ein
Auswertungsgespräch statt. Die Resultate der ersten Versuchsreihen waren ernüchternd:
70 % der VP waren so gehorsam, daß sie bis zur Höchstspannung gingen. Die
30 % derer, die vorher abbrachen, lagen immerhin zwischen 300 und 450 Volt.
War noch eine bereitwillige andere Person anwesend, die den Schock-Generator betätigte,
und die VP dirigierte nur die Verabreichung, gab es nahezu keine einzige
Weigerung.
Von
den Variationen, die die Weigerung stimulieren sollten, ergaben folgende zwei
auffällig andere Resultate: Wenn der Versuchsleiter das Zimmer verließ und die
Anweisung nur unter Telefonkontakt gab, sank der Gehorsam, bis auf 450 Volt
zu gehen, auf 20 % und noch stärkere Verweigerung (10 % Gehorsam)
ergab sich, wenn eine andere anwesende angebliche Versuchsperson sich der Fortführung
widersetzte.
Das
Milgram-Experiment erlangte große Popularität, weil der damit erwiesene Fakt,
daß fast alle Menschen bereit sind, andere in höchste Lebensgefahr zu bringen
(oft wurde fälschlich zu foltern oder zu töten behauptet) zur spektakulären
Untermauerung aller denkbaren Theorien genutzt wurde. Während Milgram mit
diesem Experiment seine behavioristischen Positionen beweisen wollte,
interpretierte die Liga der Triebdogmatiker die Ergebnisse als Beleg für
angeborene Aggressionslust. Die Massenmedien verkündeten, daß in jedem
Menschen ein Mörder steckt, und Fachmagazine meinten u.a., daß die Duldung
durch Vorgesetzte wichtige Kontrollmechanismen der Psyche ausschalte.
Beeindruckend
ist durchaus an diesem wie auch an anderen behavioristischen Experimenten, daß
sie belegen, in welchem Maße der Mensch seine Individualität überschätzt,
denn im Ernstfall handeln fast alle ähnlich. Das wollte Milgram auch zeigen,
dabei wollte und mußte er, um das Experiment zu objektivieren, alle Inputs, wie
die Anweisungen des Versuchsleiters, die Schreie der »Schüler« in Abhängigkeit
von der Voltzahl usw., genau standardisieren, damit die Outputs meß- und
vergleichbar sind. Die VP wurde damit zur Black Box. Unbefriedigend daran ist,
daß nur die Relation zwischen Input und Output ermittelt wird; die Mechanismen,
die in der Black Box stattfinden, bleiben weiterhin im dunkeln. Doch gerade erst
die Antworten auf die Fragen: welche a priori vorhandenen Triebkräfte
werden durch die Inputs zur Auslösung gebracht oder blockiert, könnte uns
einen Blick in das menschliche Wesen und die wichtige Problematik, welche
Dynamik biologischer und welche kultureller Herkunft ist, gewähren.
Ohne
das Experiment hier auswerten zu wollen, kann man zumindest im Zusammenhang mit
dem Phänomen Suggestion folgendes festhalten: Die häufig gegebene
Interpretation, daß der Mensch unter Billigung von Autoritäten seiner
Aggression freien Lauf läßt, ist hiermit nicht erwiesen. Außerdem müßte die
Aggression unterteilt werden:
-
ist es eine, die sich erst im Versuch, eventuell durch Ängstigung der
VP, aufbaut?
-
ist sie kulturell erworben durch permanente vorangegangene Frustration?
-
ist sie genetisch bedingt durch angeborenen Aggressionstrieb?
Wenn
die letzte Mutmaßung als Interpretation herangezogen wird, zeugt das in erster
Linie von oberflächlicher Versuchswahrnehmung. Eine Oberflächlichkeit, die
ihre Ursache im Wunschdenken der repressiven Ideologie hat, der Mensch sei eine
Bestie, die erst durch Disziplinierung und geeignete Kontrollmechanismen
zivilisiert werden muß, und die der Hoffnungslosigkeit, daß eine bessere Welt
Utopie sei, den Beweis liefern will. Denn das Experiment kann nicht richtig
interpretiert werden ohne Berücksichtigung des konkreten Benehmens der VP während
der Tests und der Äußerungen im Auswertungsgespräch. Auch wenn sich solche
Indizien nicht als quantitative Meßwerte erfassen lassen, führen erst sie zum
richtigen Verständnis. Es sind z.B. die nervösen Störungen, die die meisten
»Lehrer« hatten, Ausdruck unsagbarer Peinlichkeit: Schweißausbrüche,
Lachkrämpfe, erhöhter Blutdruck bis hin zur Notwendigkeit dringender
medizinischer Hilfe. Das Ausmaß, in dem die »Lehrer« litten, erlaubt
keinesfalls den Schluß, sie hätten Lust am Quälen. Viele VP wurden während
des Experiments zunehmend irritiert, klammerten sich an den Versuchsleiter und
wollten das, was sie als seine Erwartungshaltung glaubten, nicht enttäuschen.
Im anschließenden Gespräch reflektierten die »Lehrer«, daß sie sich mehr
dem Versuchsleiter gegenüber verantwortlich fühlten als ihren eigenen Taten
gegenüber. Sie berichteten von der ganzen Skala aller erdenkbaren
Rationalisierungen, die sie sich während des Versuches zur Berechtigung seiner
Fortführung ausdachten. (»was man anfängt, muß man auch zu Ende führen«;
»als die ersten Zweifel aufkamen war es zu spät, jeder dann erfolgte Abbruch
hätte die Richtigkeit der vorangegangenen Schocks widerlegt«; »der
Versuchsleiter muß doch wissen, was richtig ist«; »der Schüler hätte sich
doch mehr zur Wehr setzen müssen« usw.) Ein Teil der VP war im Nachhinein so
stark über sein eigenes Verhalten erschüttert, daß ihm der Einblick in die
eigenen Rationalisierungen ausnahmsweise möglich wurde.
Auch
wenn das Milgram-Experiment als primäres Ergebnis eine überraschend hohe
Einheitlichkeit im Handeln liefert, sollten die (meßbaren) Unterschiede
dennoch nicht unberücksichtigt bleiben. Deswegen könnte ein weiterer wichtiger
Blick in die »Black-Box« der Frage gelten, inwieweit die im Test gezeigte
Disposition der VP zwischen Beeinflußbarkeit und Widerstandsvermögen
mit anderen Persönlichkeitseigenschaften korreliert. So wünschenswert es wäre,
das dafür Ursächliche bis an seine Wurzeln zurückzuverfolgen, so
nachvollziehbar ist auch, daß es dafür heute keinen Auftraggeber gibt. Unabhängig
von diesen Kritikpunkten ist mein Fazit aus dem Milgram-Experiment: Der Mensch
verfügt — völlig berechtigt — über einen Glauben an das Richtige. Dadurch
aber, daß Gesellschaft, Technik und Politik immer komplexer und
undurchschaubarer werden, sinkt die Fähigkeit, dieses Richtige zu erkennen.
Infolge dessen erfährt der Glaube an das Richtige einen Wandel zum Glauben an
offene oder anonyme Autoritäten, also ein Glaube an die Macht, von der die
Suggestionswirkung ausgeht.
Unter
dem kategorischen Imperativ wird damit diese Macht einer besonderen
Verantwortung verpflichtet. Das Paradoxe, daß im Rahmen unserer
gesellschaftlichen Spielregeln genau jener, der sich besonders verantwortlich
zeigt, nicht an die Macht gelangt, demonstriert, wie veränderungsbedürftig
unsere Spielregeln und deren treibende Kräfte sind.
Seit
dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Verhältnis der offenen Autoritäten (Vater,
Lehrer, Pfarrer, König, Polizist, Politiker) immer stärker zugunsten der
anonymen Autoritäten (Konformismus und Mode, Massenmedien, öffentliche
Meinung, sozialadäquate Verhaltensmuster und statusgemäßer Kunstkonsum)
verschoben. Damit kann die Kunst, die sich öffentlich präsentiert,
nicht von dieser Verpflichtung zur Verantwortung freigesprochen werden, als wäre
sie etwas Privates.
1.5.
Hypnose und posthypnotische Aufträge
Am
extremsten sind die Suggestionserfolge während der Hypnose oder als
posthypnotische Aufträge. Hans Eysenck hat eine umfangreiche Serie solcher
Versuche gemacht, um festzustellen, wie weit der Hypnotisierte mitgeht. Es war
kein Problem, einen Soldaten dazu zu bringen, seinen vorgesetzten Offizier zu
erwürgen — zwei Hilfspersonen mußten ihn unter Aufbringung aller Kräfte
davon abhalten. Die Frage ist nicht, wie falsch, unmoralisch oder verbrecherisch
die Tat ist, sondern wie gut man sie der VP plausibel macht.
Bei
posthypnotischen Aufträgen — d.h. die VP wird hypnotisiert; ihr wird dabei
ein Auftrag gegeben, den sie auf ein festgelegtes Signal hin ausführen soll;
befohlen, daß sie die Hypnose vergessen soll; aus dem Trancezustand geweckt,
und irgendwann gibt dann der Hypnotiseur das Signal — wird die Erfindungsgabe
der VP gefordert, bevor sie die Tat begehen kann. Denn der Mensch kann es je
nach dem Maß seiner Selbstreflexion kaum dulden, irrationale Handlungen zu
begehen. Die Handlung muß immer als das Resultat einer logischen Kette, die
irgendwo in objektiven Sachzwängen ihren Ausgangspunkt gefunden hat,
erscheinen. Eysenck hat folgendes Experiment durchgeführt: Eine VP soll nach
dem Aufwachen auf ein leises Pfeifen hin in den Korridor gehen, einen Schirm
hereinbringen und ihn mitten im Zimmer aufspannen. Zu beobachten ist, daß die
VP nach Ertönen des Pfeifens sich auf das Gespräch nicht mehr konzentrieren
kann, abwesend erscheint und das Gespräch auf die Unsinnigkeit des Aberglaubens
lenkt, es würde ihr z.B. nichts ausmachen, im Zimmer einen Schirm aufzuspannen,
was doch eigentlich großes Unglück bedeutet ..., bevor sie in den Korridor
ging. Ebenso zog eine VP eine volle
Show ab: was doch heute für lahme Zeiten seien, ja früher, da gab es noch
Idealisten, da waren wir im Revolutionsfieber und sprangen auf den Tisch und
riefen »Es lebe Mao!« Sagt′s und tat′s — man hatte ihr den
posthypnotischen Auftrag dazu gegeben. Das Bemerkenswerte ist, mit welch überzeugender
Nachvollziehbarkeit solche Handlungen eingefädelt werden. Man nennt diesen
Mechanismus Rationalisierung.
Der
größte Teil der uns treibenden Motivationen im täglichen Leben hat keinen
vernünftigen (rationalen) Ursprung, sondern dient zur Befriedigung verdrängter
Komplexe (Sadismus, Masochismus, Nekrophilie, Konformismus, Narzißmus ...). Da
diese uns völlig unbewußt bleiben müssen, können die zur Befriedigung
daraus erwachsenden Motive eben daraus nicht
erklärt werden. Der Mensch gerät somit in ein Spannungsfeld: einerseits
steigt aus dem Unbewußten ein Motiv auf, welches befriedigt werden will, und
andererseits verbietet die Selbstreflexion des vernunftbegabten Menschen diese
irrationale Handlung, solange sie ihm nicht plausibel ist. Nun wird, ausgehend
vom Motiv über Assoziationen kausalen Charakters eine Kette zu irgendeinem
Sachverhalt, der objektiv und nachprüfbar ist, geknüpft, und erst wenn dieser
im befriedigenden Maße gefunden ist, taucht er ins Bewußtsein auf und die
logische Kette spult sich zurück zum Motiv, das dann als Konsequenz
erscheint und verwirklicht werden kann. Diese Rationalisierung ist somit die
Vertauschung von Ursache und Wirkung, denn der Betreffende glaubt, die Ursache für
die Handlung liege im gefundenen Grund, aber in Wirklichkeit ist die Begründung
das Resultat der beabsichtigten Handlung.
Solcherart
hergestellte Begründungen, die im täglichen Leben den Ausführenden selber als
logische Konsequenzen erscheinen, werden oft von anderen als faule Ausreden
durchschaut. Warum im Streitfall die betreffende Person sich hartnäckig auf den
nachprüfbaren objektiven Sachverhalt beruft, aber bei der genaueren Überprüfung
der logischen Kette gereizt reagiert, kann durch den hier postulierten Vorgang
der Rationalisierung zwar gut erklärt werden, ist aber noch kein sicherer
Beweis für den Vorgang des Rationalisierens. Jedoch solche wie die im Vorfeld
genannten Beispiele posthypnotischer Aufträge scheinen mir eine geeignete
empirische Methode zu sein, den Mechanismus der Rationalisierung zu beweisen.
Denn diese Aufträge sind in gleichem Maße unbewußt und irrational wie die
vorgenannten Motive, nur im Unterschied zu denen ist ihre Irrationalität durch
den Akt des künstlichen Einpflanzens bezeugbar. Man könnte z.B. in
einem angenehm kühlen Behandlungssaal die VP posthypnotisch auffordern, erst
ihre Jacke auszuziehen und daraufhin das Fenster zu öffnen. Wichtig wäre das
Hinzuziehen von Beobachtern, die während und nach der Hypnose anwesend sind und
den Vorgang der Motivimplantation bezeugen können und außerdem Beobachtern,
die erst nach dem Aufwachen hinzukommen, die anschließend in Bezug auf
Plausibilität oder Auffälligkeit des Verhaltens der VP befragt werden.
Schrittweise könnte man die Aufträge absurder machen und dabei den Mechanismus
des Rationalisierens studieren. Bisher habe ich nichts von solchen
Untersuchungen gehört oder gelesen. Leider. Wäre das Prinzip der
Rationalisierung Bestandteil der Allgemeinbildung, würde die Suggestierbarkeit
der Massen viel geringer sein, würden die Machtmenschen und Politiker besser
durchschaut werden, würde die eigene Bereitschaft zum Gehorsam eher erkannt
werden können, wäre die nackte Gewalt wirklich nackt und so mancher Krieg
seines vorgeschobenen Grundes beraubt, und vor allem würden 90 % des
Konsumierens wegbrechen. Rationalisierungen beschränken sich keinesfalls auf
einzelne Personen; hat die ganze Gesellschaft gleiche irrationale Motive (wovon
auszugehen ist), werden sie über Generationen hinweg kollektiv optimiert zu
komplexen ideologischen Bauwerken, ja, zum zentralen Teil der herrschenden
Kultur. Die Kultur, das sind vor allem die Spielregeln der Erzeugung und
Befriedigung von Bedürfnissen. Und gerade weil wir weder die wirklichen
physischen, psychischen und gesellschaftlichen Bedürfnisse des Menschen kennen
und kennen wollen, können die Bedürfnisbefriedigungsindustrie und ihre Reklame
solche absurden Erfolge feiern. Reklame könnte ja auch darin bestehen, die tatsächlichen
Vorzüge des Produktes aufzuzählen, aber das ist antiquiert. Heute geht es
darum, auf der dumpfen Gefühlsebene zu operieren und zur Beseitigung der
letzten Bedenken dem Reklameopfer die nötigen Rationalisierungen zu liefern,
damit der Kaufwunsch freie Bahn bekommt.
Nun
ist es eine bedeutende Frage, ob wir unsere eigenen Rationalisierungen
durchschauen können. Welche Mittel haben wir?
Bildung?
Ist kaum hilfreich, denn ein großer Teil der kollektiven Suggestions- und
Rationalisierungsleistungen ist intensiv mit unserer Bildung verwoben, und außerdem
ist der Unterschied zwischen lernfähig und indoktrinierbar nicht allzu groß.
Intelligenz?
Je intelligenter der Mensch ist, desto raffinierter sind seine
Rationalisierungen. Also, man kann es kaum. Vielleicht sollten wir uns deswegen
wieder angewöhnen, sich gegenseitig die Meinung zu sagen, auch wenn das
in der flexibilisierten Gesellschaft, der der Austausch menschlicher Beziehungen
mehr entspricht als deren Aufrechterhaltung, überflüssig erscheint.
Die
größten wirtschaftlichen Suggestionserfolge feiert wahrscheinlich die
Unterhaltungsindustrie. Daß der Aufstieg von Pop-Musikern wie ABBA, Modern
Talking, Michael Jackson fast vollständig und von solchen wie Lang Lang, David
Garrett zum großen Teil auf Massensuggestion zurückzuführen sind, ist klar.
Warum sollte man eigentlich nicht auch einige zeitgenössische bildende Künstler
mit in diese Reihe stellen können?
Ich
glaube aber, daß die Mechanismen hier viel komplizierter sind. In der Popmusik
wirkt eine lineare Suggestion vom Produzenten über die Massenmedien auf das
Publikum, welches dann geneigt ist, sich zum auserkorenen Star zu bekennen, um
somit eigene Identität zu erlangen. Dabei ist die Beziehung zum Star (also ob
man die Musik versteht, begründet wertschätzt usw.) viel unwichtiger als die
Beziehung zu der Gruppe, die sich auch zu dem Star bekennt. Das gibt der Gruppe
und jedem Einzelnen die Identität. Der eigene Musikgeschmack, den man als ursächlich
dafür ansieht, ist eher die Folge mehrerer Identifikationen, die der Fan
im Laufe seiner Jugend durchlief. Auch diese Musik ist wie ein Logo: je stärker
auf das Wiedererkennbare reduziert, desto besser als Gruppenfähnchen, hinter
dem man treu marschiert, geeignet. Obwohl das für die Bildende Kunst ebenso
gilt, kann das Bekenntnis zwei gänzlich unterschiedliche Intensitäten
erlangen: man kann Kunstwerke in Museen und Galerien betrachten und
Ergriffenheit spüren, man kann sie aber auch kaufen. Sie verleihen somit dem
Eigentümer nicht nur Identität, sondern auch ein Mittel zur Machtdemonstration
und können nicht zuletzt auch als Geldanlage fungieren, zu deren Wertsteigerung
der Eigentümer, hat er einmal Mittel und Macht, auch selbst beitragen kann. Das
heißt, der Konsument bleibt zwar das Opfer einer Suggestion, aber er setzt das
Kunstwerk wiederum suggestiv ein. Durch diese Wechselwirkungen, in die auch
Galerien, Museen, Auktionshäuser und Kunstjournale involviert sind, ist der
Prozeß der Wertschätzungskulmination so stark verzögert, daß ein
gleichzeitig produzierter Popsong inzwischen längst vergessen ist.
Daß
der suggerierende Effekt nicht auf zeitgenössische Kunst beschränkt ist, wird
deutlich, wenn man sich die Touristenströme nach Rom oder Mailand vergegenwärtigt.
Die Gegenfrage: Ist denn das schlimm? kann man nur mit ja beantworten, weil die
massensuggerierende Stilisierung zu Sehenswürdigkeiten ein Teufelskreis
ist, der seine Voraussetzungen selbst schafft, nämlich dergestalt, daß der
Rest als nicht des Sehens würdig gilt und durch die damit einhergehende
Vernachlässigung tatsächlich dieses Faktum hergestellt wird. Mag das
zugespitzt erscheinen, da es ja auch im Erzgebirge Sehenswürdigkeiten gibt,
gilt trotzdem das gleiche Prinzip: die einfache Umgebung wird übersehen und
nimmt durch Mißhandlung den Wert ein, den man ihr zubilligt. Unerträglich unästhetische
Fußwege und Haltestellen abseits vom Chrom-und-Glas-Bombast in den Städten;
Felder werden bis an das Waldrandgestrüpp gepflügt, so daß kein Fußweg
bleibt; doch Feldwege werden gepflastert, um sie dem flotten Autoverkehr zugänglich
zu machen. Jemand, der sich, einer nützlichen Tätigkeit nachkommend, von einem
Dorf zum anderen zu Fuß, mit Fahrrad oder Handwagen bewegen will, erlebt, daß
er als einfacher Mensch nichts wert ist. So begegnen sich in haßerfüllter
Tristesse der wertlose Mensch und die wertlose Umwelt und sind doch eigentlich
das Echte. Als Trostpflaster bleibt dem Menschen aber in der Rolle als
beliebter Tourist noch eine Reise nach Rom.
1.8.
Suggestion in der Malerei
Doch
zurück zur Suggestion in der Bildenden Kunst, speziell der Malerei! Ich möchte
vier Aspekte voneinander unterscheiden.
1.8.1.
Die wirkliche Suggestivkraft eines Bildes
Ein
Gemälde muß schon sehr uninspirierend sein, damit der Betrachter nicht mehr
zu spüren glaubt, als wirklich drauf vorhanden ist. Lassen wir einmal die
phantasiebegabte Flächengestaltung, die 95 % der abstrakten Malerei
ausmacht, beiseite, kann der bessere Rest mit einer bemerkenswerten
Suggestivleistung aufwarten.
Die
Raumtiefenillusion schafft z.B. Heino Naujoks überzeugend. Nicht nur durch die
Überschneidung der einzelnen Farbfladen wird der Raum durchgängig bis nach
hinten gestaffelt, sondern viele dieser Kleckse und fetten Pinselstriche selbst
scheinen durch ihre Form und Strukturierung nicht vertikal zu stehen, sondern
horizontal zu schweben. Darüber hinaus geht der Blick zwischen diesen scheinbar
dreidimensionalen Gebilden nach hinten in eine unendliche Weite. Seine früheren
Werke sind von noch heftigerer Geste geprägt. Man kann dort wie auch bei
manchem Abstrakten Expressionisten wunderbar nachvollziehen, mit welcher
Geschwindigkeit die Farbe hingepeitscht wurde und welcher Konzentrationsakt
vorher notwendig war.
Wie
man auf Bildern von Detlef Kappeler sieht, können Farbflächen so ins Bild
gebracht werden, als würden sie sich berstend ausbreiten.
Es
gibt noch mehr Möglichkeiten: man kann sogar den Unterschied malen zwischen
verbogen und gebogen; biegt man ein Kupferrohr und läßt es los, bleibt es so — ein Glasfiberstab dagegen schnellt zurück. Das Gebogene hat einen ganz
spezifischen Krümmungsverlauf, dem man das Potential zur Bewegung ansieht. Das
Potential zur Bewegung: zum Absprung, zum Ausbruch oder zum Zerbrechen, das ist
die Spannung. Andererseits können Flächen so angeordnet sein, daß sie auf
eine dazwischenliegende einen Schub ausüben, diese fast zerquetschen: ins Bild
kommt eine Kompression, ein innerer Druck. Dadurch, daß sich durch
kompositorisches Kalkül und malerische Mittel Phänomene wie Raumtiefe,
Geschwindigkeit, Druck, Spannung usw. suggerieren lassen, erlangt schon ein
abstraktes Bild Dimensionen und Eigenschaften, über die es physikalisch
eigentlich gar nicht verfügt.
Noch
viel stärker erweitern sich diese suggestiven Möglichkeiten im Bereich der
Landschafts- oder der figürlichen Malerei. Artemisia Gentileschis Bild
»Judith enthauptet Holofernes« besitzt eine phantastische Plastizität
durch die Verwendung von Beleuchtung und Schatten. Im Zusammenhang mit der
Interpretation des Geschehens, in erster Instanz auch ohne jeden metaphorischen
Gehalt, können die verwendeten Farbanordnungen, Deformierungen und Körperhaltungen — gerade in ihrer Diskrepanz zum Realistischen eine Stimmung
suggerieren, die sich auf den Betrachter überträgt. Noldes Bild »Die Kerzentänzerinnen«
schafft durch seine psychisch-expressive Malerei eine Extase, die der Betrachter
empfindet und nicht weiß, er kann sie auch nicht wissen, denn es
gibt — und das ist die Stärke des Bildes — keinen mythologischen Stoff
dazu, an dem es sich aufzuwerten versuchte.
Nun
soll das nicht heißen, daß ein mythologischer oder im Allgemeinen jeglicher
narrativer Gehalt abzulehnen sei. Im Gegenteil, wenn das Bild über den Fakt
hinaus, daß es im Abstrakten ein starkes Bild ist, auch noch eine Geschichte
erzählen kann, ist man schon fast am Optimum dessen, was Kunst vermag — allerdings
hängt das noch von der Aussage der Geschichte ab. Aber diese
Geschichte, wenn sie zweifelsfrei (den Betrachter im Zweifel zu lassen, halte
ich nicht für eine starke Leistung) entschlüsselt werden kann, hat schon
nichts mehr mit Suggestion zu tun, sondern was hier stattfindet, ist Erkenntnis.
1.8.2.
Die Schaffung von Respekt durch Verstörung
Hier
kann nun das über Konditionierung des Rezipienten, Suggestierbarkeit und
anschließende Rationalisierung Dargelegte zur Anwendung gebracht werden.
Es
ist natürlich immer noch der größte Teil der Menschheit, der vor moderner
Kunst völlig unbeeindruckt steht und meint, das sei Unsinn. Aber dieser Teil
hat kein Mitspracherecht und legt auch keinen Wert darauf. Schade an sich, denn
bei ihm wäre noch einiges zu retten. Weniger zu retten ist bei jenen, die fast
alles toll finden. Denn es ist viel leichter, denen, die die moderne Kunst
eigentlich ablehnen, klar zu machen, worin die Größe von Kandinsky, Franz
Kline oder Emil Schumacher besteht, als jenen, die von irgendetwas begeistert
sind, zu vermitteln, daß das eigentlich Mist ist. Das ist psychologisch
belegbar und im Test überprüfbar: Man kann VP quälen und ihnen dann
abverlangen, anderen VP diese Prozedur mit voller Begeisterung schmackhaft zu
machen; besticht man dafür eine Hälfte dieser VP mit einem Geldbetrag,
erinnern diese sich später an die Qual, während die Nichtbestochenen später
meinen, begeistert gewesen zu sein. Das ist eigentlich ganz klar: wer nutzlos
leidet, verdrängt das Leiden viel stärker als der, der noch etwas davon hat.
(Darum wählen die Arbeiter auch eher die CDU als die PDS.) Und deswegen ist
jemand, der grundlos begeistert — also irrational motiviert — ist,
kaum einer objektivierenden Argumentation gegenüber aufgeschlossen, sondern im
Gegenteil, er wird seine Affekte rationalisieren. Aber kann denn jemand
begeistert oder wohlwollend einer Sache gegenüberstehen, die gar keinen Grund
dafür bietet? Ja, selbstverständlich, das sind doch die ganz normalen
Konventionen, in denen wir aufwachsen und unser Rollenspiel erlernen. Man muß
sich einfach nur einen mäßig ehrgeizigen und anpassungsbereiten
Abteilungsleiter vorstellen, der von seinem Chef zu einer Tagung geschickt wird — das erste Mal. Es erfüllt ihn mit Stolz aber auch mit Angst. Das Fachliche
ist für ihn vielleicht die kleinste Übung, aber das »Vergnügliche«
danach: Er wird heimlich in alle möglichen Richtungen schielen, um
herauszufinden, wie man sich richtig auf dem glatten Parkett und am überladenen
kalten Buffet benimmt. Mag das auch etwas unangenehm sein, er wird den Unsinn
der Spielregeln kaum hinterfragen und wenn er später dann etliche solcher
Tagungen hinter sich hat und die Normen im Detail kennt, wird ihm das das
Siegergefühl der Auserwählten geben, und er würde solches Verhalten anderen
Neulingen genauso abverlangen.
Der
heutige Kulturbürger ist viel stärker konditioniert als er denkt, es fällt
nur nicht auf, da fast alle dasselbe machen. Es erscheint ein Signal und die
Spielregel gibt vor, wie man reagieren muß. Doch wäre es damit getan, würden
sich die Hierarchien nivellieren. Deshalb haben sich die, die die Macht haben,
noch etwas hinzu einfallen lassen: die Spielregeln müssen im stetigen Wandel
begriffen sein.
Signale
können, um wieder zur Kunst zu kommen, auch irgendwo ausgestellte Kunstwerke
sein. Um als Signal zu fungieren, müssen sie nicht das entschlüsselbare
Geheimnis aufweisen, welches eine Erkenntnis liefert. Es reicht, wenn sie so tun — und das tun nicht wenige. Ja, mir scheint, daß genau das der derzeitig
kultivierte Trend ist: andeutungsreich, aber in einem solchen Maße unverständlich,
daß sie unantastbar werden. Wenn dann noch der Fakt hinzutritt, daß die
Kunstwerke ästhetisch abstoßend auf den Betrachter wirken, also sinnlich
keinen Zugang bieten, bleibt dem Betrachter, wenn er zu den kultivierten
Menschen gezählt werden will, kein anderer Ausweg: ehe er sich als Trottel präsentiert,
der ein Werk nicht versteht, wird er des Werkes Bedeutung verspüren,
keimt in ihm eine Interpretationsmöglichkeit, in die er sich hineinbegeistert,
und er wird diese Begeisterung auf das Werk übertragen. Diese Verzweiflungstat
ist manchmal der kreativste Akt im Zusammenhang mit dem Werk. Ist ihm diese
kreative Fähigkeit versagt, bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, wie unser
Abteilungsleiter nach links und rechts zu schielen, und mit der Zeit geht es ihm
dann ganz locker von der Zunge: »echt witzig« oder eher mit bewunderndem
Kopfschütteln: »Wahnsinn«. Damit wird er selbst zum Trendsetter doch die
hauptsächlichen Meinungsmacher sind nicht diese Rezipienten. Wir finden sie
unter den Angestellten in Kulturbüros und Museen und unter Journalisten. Bei
denen gibt es — wenn man sich nochmals den letztgenannten Test vergegenwärtigt — Grenzen der objektiven Auseinandersetzung. Alles Kritikwürdige können sie
auf Dauer nicht verreißen, das verbieten der Job und die Selbstzensur, die sie
um eigene Neutralität bangen läßt. Daher schleicht sich ein Wohlwollen ein,
welches die »Kritiker« sich
selbst suggerieren, um sich ihrer Ehrlichkeit zu vergewissern. Verfügt der
Kritiker über etwas weniger Autosuggestierbarkeit und mehr Gewissen, versucht
er die Sache von beiden Seiten zu sehen. Doch wenn er glaubt, über das Objekt
zu referieren, zeigt er nur seinen Konflikt zwischen beiden Rollen, der
sich in einer neuen Rolle auflöst: als Pseudo-Dialektiker. Das klingt dann so:
»Aber darin besteht gerade die Kunst, daß sie keine ist«.
Was
kann man unter solchen Bedingungen von einem Künstler, der um seine Existenz kämpft,
anderes erwarten, als daß er sich anpaßt. Wenn es dem Rezipienten reicht, daß
das Kunstwerk intellektuelle Tiefe vermuten läßt, und der Kritiker dies
ideologisch untermauert, und beide in ihrer Verkrampfung soweit gehen, daß sie
ein Werk, welches sie wirklich verstehen, als vordergründig und
platt-propagandistisch disqualifizieren, dann wird von Seiten der Künstlerschaft
viel Widerstandsvermögen und Ehrlichkeit abverlangt, um das nicht zu bedienen.
Aber Künstler sind mindestens genauso suggestierbar wie der Rest der
Gesellschaft.
1.8.3.
Die Wertübertragung vom Namen des Künstlers auf das einzelne Exemplar
Als
ich eine etwas reichere junge Frau, die drei Bilder von mir gekauft hat, aber
von sich eigentlich meint, daß ihr die Leipziger Schule besonders liegt,
besuchte, zeigte sie mir völlig enthusiastisch ein Penck-Original an der Wand.
Die Hilflosigkeit ihrer beschwörenden Worte über das, was sie angesichts des
Bildes erlebt, war peinlich. Gänzlich unverständlich war, welchen Geschmack
sie nun eigentlich hat. Es ist also wieder dasselbe: wir wissen, welcher
Ruf dem einzelnen Künstler offiziell beigemessen wird, und infolgedessen
erzeugen wir — je nachdem, wie wenig ablehnend wir der Gesellschaft und dem
Kulturbetrieb gegenüberstehen — die geforderten Emotionen, die von uns
letztendlich mehr oder weniger elegant sprachlich rationalisiert werden.
1.8.4.
Die Wertübertragung vom Präsentationsrahmen auf den Künstler und damit auf
das Werk
Wenn
man ins Kalkül zieht, wie teuer ein Museumsbau inklusive seiner Unterhaltung
ist, wie teuer eine Fernsehminute oder eine Seite in einem Kunstjournal, dann überträgt
sich — da diese ja nur als Verpackung fungieren — eine gigantische Wertschätzung
auf den eigentlichen Inhalt, nämlich die vorgestellten Kunstwerke, gänzlich
unabhängig von deren ästhetischen oder inhaltlichen Qualitäten oder vom Namen
des Künstlers.
Die
drei letzten Punkte haben nichts mit Kunst selbst zu tun, doch besitzen sie im
allgemeinen eine überwältigende Suggestivwirkung, der fast nur die
widerstehen, die sich überhaupt nicht für Kunst interessieren oder diejenigen,
die den derzeitigen Kunstbetrieb mit seinen politischen, wirtschaftlichen und
psychologischen Hintergründen ablehnen und sich aus lauter Gegenwehr eine
wissenschaftliche Kunstbetrachtung aneignen. Es wäre ein leichtes, die Macht
dieser drei Suggestionsformen in psychologischen Tests unter Beweis zu stellen,
und unbeabsichtigt ist dies auch schon oft geschehen, wenn auch nicht
systematisch, nämlich dann, wenn Kunstwerke, ihres Rahmens beraubt, als solche
nicht mehr erkannt und beseitigt wurden oder umgekehrter Weise Kinder- oder
Schimpansenbildern museale Weihen verliehen wurden. Es fehlt nur an sachlicher
Auseinandersetzung damit, und in dieser Spaßgesellschaft findet sich
stattdessen viel eher einer, der für drei kleine Bilder des Schimpansen Congo
auch noch fast 22 Tausend Euro bezahlt.
Insofern
unterscheiden sich die drei Suggestionsformen von der erstgenannten: Die erste
ist kunstimmanent und unbedingt. Auch ein Betrachter aus einer vollkommen
anderen Gesellschaftsordnung würde die in ihr liegende Wirkung spüren, während
die drei anderen an Konventionen gebunden sind und ein gewisses Maß an Beeinflußbarkeit
voraussetzen.
Durch
welche Mechanismen Neo Rauch auf die Ebene der Stars gehoben wurde, ist eine
andere Geschichte, aber der Fakt, daß er solche durchgängige Popularität
erlangte, ist voll und ganz diesen konventionellen Suggestionsformen
zuzuschreiben. Die vermeintlich bedeutungsschweren Bilder, das ständige
Wiederholen seiner Wertschätzung in den Massenmedien, die tatsächlichen Fakten
seiner wirtschaftlichen Erfolge rufen bei den Rezipienten, wenn sie vor seinen
Werken stehen, ein Ergriffensein hervor, von dem sie glauben, es käme von den
Bildern. Doch diese sind nur Signalträger, Auslöser; das Ergriffensein ist
konditioniert. Die Gefühle sind echt, sie sind ja schließlich da, doch die
Ursachen der Gefühle werden falsch interpretiert. Ein maßgeblicher
Rauch-Sammler aus Wien weist in einem Interview darauf hin, daß sich nur ein
paar einzelnen Menschen auf der Welt die Rauch-Bilder erschließen, zu denen er
gehört. Eine notwendige Einbildung, die nicht nur die Geldausgabe rechtfertigt,
sondern ihn (für eben jene Gebühr) in distinguierte Höhe hebt.
Die
eben gemachte Behauptung vom konditionierten Ergriffensein ist keine rhetorische
Übertreibung. Man kann leicht zeigen, wie es gelingt, Reize (oder Signale) mit
Affekten zu verknüpfen. Mitchell Gold hat folgendes Experiment gemacht: einer
VP wird unter Hypnose eine Schuld klargemacht, wobei der Hypnotiseur einen
Finger nach oben hebt. Die VP reagiert mit Schreck und Angst, was sich verliert,
wenn ihr klargemacht wird, daß ein Irrtum vorliegt. Dabei senkt er den Finger.
Das wird mehrfach wiederholt. Nach dem Aufwachen weiß die VP nicht mehr das
Geringste von dieser Schuld, jedoch die Reizverknüpfung bleibt ihr
eingepflanzt: Wenn der Experimentator den Finger hebt, zeigen sich auf ihrem
Gesicht wieder das ängstliche Schuldgefühl und dann Erleichterung, wenn er ihn
senkt. Bei diesem Prozeß ist die Hypnose selbst nicht unbedingt nötig. Sie ist
nur effektiv, demonstrativ und vor allem erlaubt sie es, Beobachter in einen
neutralen Zeugenstand zu versetzen, so daß sie echte Außenstehende sind. Aber
zur eigentlichen Konditionierung ist der hypnotische Trancezustand nicht
erforderlich, die Suggestierbarkeit des Menschen im typischen Halbwachzustand
seines Tagesgeschäftes ist ausreichend. Unser heutiger Kulturbetrieb mit all
seinen angeschlossenen Massenmedien wirkt wie ein umfassendes Hypnosemanöver
mit dem Hauptunterschied, daß es kaum Außenstehende gibt — und wenn, dann
ist es Bestandteil der konditionierenden Spielregeln, daß diese nicht
wahrgenommen werden.
1.9.
Die Alchemie des Kulturbetriebes
Es
gibt — egal ob es sich um Fragen der eigenen Mitschuld in der Vergangenheit
handelt oder um lächerliche Konsumwünsche, die aggressive Außenpolitik des
eigenen Landes, die naturzerstörerische Kehrseite unseres praktizierten
Luxus′, aber eben auch was die moderne Kunst betrifft — massenhaft Menschen,
egal aus welcher sozialen Schicht, die betrogen werden wollen. Und wer sind,
wenn es sich um Malerei handelt, die Betrüger? Die Künstler, die Galeristen,
die unkritischen Journalisten, das ganze Kulturmanagement? Bevor man den Vorwurf
an die Künstler richtet, kann man auch in dieser Frage eine Analogie zur
Wissenschaft und besonders zur Medizin herstellen: Es gibt eine ganze Reihe von
Fällen, die, von außen betrachtet, als Fälscher und Hochstapler in
Erscheinung treten, einige haben sogar die Nobelpreiskandidatur erlangt. Ich
will nicht abstreiten, daß darunter auch Kriminelle, die vorsätzlich handeln,
sind, doch vielen geht es wie Strapinski in »Kleider machen Leute« von
Gottfried Keller: Sie werden in ihre Rolle hineinmanövriert, und wenn sie ihr
eigenes Zutun und dessen Eigennutz gut verdrängen können, ist deren
Scharlatanerie unbewußt, vielleicht sogar unbeabsichtigt. Nun hat die Welt in
Wissenschaft und Technik die Forderung etabliert, Ursache-Wirkungs-Beziehungen reproduzierbar
darzustellen, um damit Behauptungen einer Überprüfung zugänglich zu machen.
Und darüber hinaus gibt es noch die Anwendung in der Praxis als
Beweiskriterium. In technischen Belangen alliieren sich eben die Bestrebungen
nach Gewinn, Schadensvermeidung und manchmal auch Dauerhaftigkeit, so daß nicht
jeder Humbug in die Tat umgesetzt wird. Fehler werden durch die Folgen recht
schnell bestraft. Das war nicht immer so. Die in der Blütezeit der Alchemie und
bis zum Ende des 18. Jh. produzierten skurrilen, aber auch nicht unschädlichen
Phantastereien waren eine Selbstverständlichkeit. Deren Verbreitung war eine
Frage der Einflußmöglichkeiten und nicht der Beweisbarkeit. Es wäre kaum
jemandem eingefallen, Hüter der richtigen Erkenntnisse zu spielen, weil die
ganze Angelegenheit technisch und wirtschaftlich noch irrelevant war. Nur mal
ein Beispiel aus einer »wissenschaftlichen« Lektüre von vor ca. 200 Jahren:
»Im Erdinneren sind Gedärme und Adern, die das Gestein verdauen und zu
Pflanzen zersetzen. Es ist nur allzu plausibel, denn die Welt hat die Natur nach
dem Vorbild des Menschen geschaffen.« (Wo lebte denn der Mensch vor
Erschaffung der Natur?) Man kann es sich heute kaum vorstellen, daß sich das
die wissenschaftliche Fachwelt vor noch nicht allzu langer Zeit gefallen lassen
hat. Tja, die großen Hoffnungen, die man in die Alchemie gesetzt hatte,
verboten alle Kritik.
Inwieweit
unterscheidet sich die Situation im heutigen Kulturbetrieb davon? Oder
darf man die Frage nicht stellen? Warum nicht? Weil Kunst etwas ganz anderes
ist? Ja, was ist sie denn? Egal von welcher Seite aus man fragt, nur ein bißchen
konsequent und schon ist man unbequem. Aber ich will den Gedanken noch mal
wiederholen:
Kann
es sein, daß
-
durch Künstler, denen Eigenständiges fehlt und die glauben, die Gesellschaft
trüge die Forderung, sich philosophisch zu äußern, an sie heran, der sie
trotz Inkompetenz gehorchen wollen, wobei dann diese andeutungsreichen
Sinnlosigkeiten entstehen, vor denen Kritiker wie Publikum (wenn einmal die
kollektive Akzeptanz geschaffen wurde) gleichermaßen den Hut ziehen und dabei
krampfhaft nach einer Begründung suchen, warum sie das Nichtverständliche
dennoch gut finden
-
durch die Kritiker wiederum, die für diese Begründungen Geld bekommen und
-
durch den eventuellen Käufer, der, wenn man es nur in erster Instanz
sieht, auch nicht der Betrogene ist, weil sein Kaufmotiv nicht darin
bestand, sich an der Schönheit des Werkes zu erfreuen, sondern daß das Werk
ihm, dem Käufer, Identität verleiht, indem er sich und anderen klar macht: Er
ist der, der sich das leisten kann und ein Defizit an Schönheit
und Verständlichkeit kommt seiner psychischen und wirtschaftlichen Motivation
deswegen entgegen, weil für ihn das Kunstwerk auch die Funktion hat,
Mitmenschen zu beeindrucken und zu unterjochen, und je teurer und absurder ein
Werk ist, desto tiefer stürzt es den Betrachter hinab — also noch einmal:
Kann
es sein, daß durch alle Beteiligten ein umfassendes Kunst-Kulturmilieu reinster
Scharlatanerie etabliert und reproduziert wird, in das jeder, eben auch jeder
Kunststudent, so nahtlos eingegliedert wird, daß es verständlich ist, wenn er
nicht dagegen rebelliert, weil er gar nichts Gegenteiliges kennt? Kann es sein,
daß wir solche Verhältnisse im Augenblick haben? ..., daß es uns als
Mitschuldigen an Ehrlichkeit mangelt, das einzugestehen? ..., daß wir uns ohne
dieses Eingeständnis gar keine anderen Verhältnisse ausdenken wollen und können?
..., daß wir deswegen Kunstwissenschaftlichkeit und Objektivität ablehnen und
einen subjektivistischen, individualistischen und narzißtischen Standpunkt
einnehmen? Und kann es sein, daß wir damit in erster Linie diejenigen unterstützen,
die uns unterjochen wollen?
Auch
wenn man nicht alle dieser Fragen bejahen würde, gibt es Fakten, die für
eine systematisch geführte Kunstwissenschaft sprechen, nicht nur des
wirklich spannenden Erkenntnisgewinns, sondern auch politischer Gründe wegen,
damit diesem Teufelskreis aus Verunsicherung → Beeinflußbarkeit → deformierter
Wahrnehmung und Bildungskonsum → Inkonsistenz und Hohlheit der Weltanschauung →
Verunsicherung ... etwas entgegengesetzt werden kann. Denn Kunst nimmt seit
Mitte des Zweiten Weltkrieges immer mehr Bedeutung in der mentalen Beherrschung
des Menschen ein. Eine Bedeutung, die schon ins Monströse geht: wenn man sich
die gezahlten Preise für Kunstwerke und die tempelhaften Museumsbauten
vergegenwärtigt; grotesk oft auch wegen der Diskrepanz zum geringen
Herstellungsaufwand mancher Kunstwerke (Lucio Fontana, Jackson Pollock, Jasper
Johns, Robert Ryman) und das viele bedruckte Papier in Büchern, Journalen, die
Stipendien, Preise, Reden usw., hat man schon einen beachtlichen Eindruck davon,
wie weit sie ins öffentliche Leben gepreßt wird. Ich meine allerdings nicht,
daß das alles von »oben« gesteuert wird, sondern an der Steuerung nehmen
viele teil. Obwohl, oder weil, die eigentlich wichtige Frage ist: wohin
wird gesteuert und nicht wer steuert? will ich mal ein Beispiel geben,
wie die Steuerung hin- und herreflektiert wird: Der Vorstandsvorsitzende einer
Bank, hat in seinem Zimmer zwei Bilder von N. Rauch hängen und auch ansonsten
»liebt« er die Leipziger Schule. Von seinen Mitarbeitern wird er bewundernd
als Kunstnarr bezeichnet. Ich persönlich gewann das Gefühl, daß er sich überhaupt
nicht für Kunst interessiert, sondern es eher als eine Pflicht ansieht, mit der
er sich auseinandersetzen muß. Warum muß er? Gelingt es etwa den Künstlern
und Galeristen, Macht auf Spitzenbanker auszuüben? Das führt uns zu den
sowieso etwas verzwickten Fragen: Wer hat denn die Macht? Wo ist sie
lokalisiert? Und auf welchen Wegen wird sie transportiert? Selbst Michel
Foucault stöhnte: »Das ist ja das Dilemma unserer Suche nach der adäquaten
Kampfform, daß wir über keine Theorie der Macht verfügen.« Das hatte mich
übrigens verwundert, denn ich hätte in erster Näherung das Modell einer
x-fach gekoppelten Schwingung unzähliger Schwinger aus der physikalischen
Mechanik entlehnt. Insofern ist auch der Vorstandsvorsitzende gezwungen,
seine Macht auf eine ganz bestimmte Weise auszuüben. Soweit das
Beispiel. Es soll nur verdeutlichen, daß, wer die Macht haben und behalten
will, sich mit Kunst zeigen muß. Soviel Macht und Wichtigkeit hat die Kunst.
Steht das nicht im Widerspruch zu dem vorher skizzierten Bild von der Technik
einerseits, die ihre Seriosität aus dem Ernst der Konsequenzen zieht und
andererseits der Kunst als Tummelwiese für Scharlatane, die ihren Spleen
ungestraft ausleben dürfen, weil die Kunst keine meßbaren Konsequenzen hat und
deswegen sowieso irrelevant ist? Nein, gerade daß sie nicht ernst
genommen wird, tut ihr keinen Abbruch; erst der Blödsinn gibt ihrer Rolle, die
sie zur Erhaltung unseres Wirtschaftssystems zu spielen hat, den tierischen
Ernst. Und das auf mehreren Ebenen.
1.10.
Die Kunst als Mittel der Verstörung
1.10.1.
Identität des Eigentümers und seine Machtmanöver
Wie
schon gesagt: der Eigentümer kann mit dem Kunstwerk gegenüber Kunden,
Partnern, Angestellten, Politikern oder anderen, auf die er Einfluß ausüben
will, seine Originalität zur Schau stellen und der Behauptung, er verstünde
etwas, was sie nicht kapieren, Ausdruck verleihen. Wenn das Werk diese Funktion
erfüllen soll, muß es absurd und andeutungsreich und eher lapidar als
pathetisch sein. Ein Bild von Delacroix z.B. erfüllt das gerade nicht und hätte
er das, würde man denken er sei ein reicher Liebhaber. Leistet er sich aber für
den gleichen Preis einen verfaulten Kuhkopf mit zwei Latexhandschuhen und kann
die Geldausgabe glaubhaft vermitteln, dann bleibt nur die Feststellung: der muß
wahnsinnig reich sein, wenn er für soetwas Geld übrig hat. Doch die
Verarbeitung dieses Gedankens erfolgt auf zwei verschiedenen Ebenen: der Stich
geht ins Herz und demütigt wirkungsvoll aber nicht ins Bewußtsein, so daß
mancher lächelnd davorstehen mag und sagt: »Toll, was sich unser Chef
leistet, das hat irgendwie was, auch Tiefe, ist schon witzig.«
1.10.2.
Die Akzeptanz des Unlogischen
Es
gibt eigenartigerweise eine ganze Reihe von Menschen, die agieren, als hätten
sie es zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht, den Staat ideologisch zu unterstützen.
Diese landen vornehmlich in der Kulturbranche und sitzen damit an den
Schalthebeln der Popularisierung. Man darf dieses Heer, was sich zu Hütern der
Absurdität macht, nicht unterschätzen. Es spielt hierbei traurigerweise nicht
einmal eine Rolle, ob sie auf der Seite der Macht stehen oder sich in Opposition
wähnen. Deren pseudointellektuelle Erklärungen, deren Verständnis und Entzücken
für das Nichtverständliche, deren Über-den-irdischen-Dingen-Schweben und
deren mediale Bedeutung, die sich manche gegenseitig zuspielen, läßt aus
diesem Lager keinen Halt für den ohnehin verunsicherten Menschen aufkommen.
Das
Populärwissenschaftliche schafft ihm keinen Zugang zur Wissenschaft, sie bleibt
ihm doch ein bedrohliches Geheimnis. Die Technik, die er bewundert, hat ihn
immer wieder enttäuscht (wenn sie aus wirtschaftlichen Interessen alle Skrupel
fallen läßt).
Die
Politik reduziert sich durchgängig auf ein gegenseitiges Abschlachten, dessen
Beobachten selbst eine Qual ist. Es ist kaum ausfindig zu machen, welcher
Politiker welches Ziel hat. Und die Massenmedien sind der völlige Vollstrecker
der Desinformation: Kriege mit fragwürdigen Hintergründen, wirkliche und
inszenierte Terroranschläge, derartig komplexe verdeckte Operationen, daß man
den Eindruck gewinnt, daß selbst die Geheimdienste nicht mehr den Durchblick
haben, was nun Teil ihrer Aktion ist und was nicht. Verschwörungstheorien und
verschwörerische Theorien über Verschwörungstheoretiker. Und zu alledem
Kommentare, die mit Sicherheit unwahr sind. Der Mensch muß sich immer mehr
daran gewöhnen, mit vom Menschen geschaffenen Dingen und Verhältnissen,
die er nicht versteht, konfrontiert zu sein. Diese Gewöhnung ist Agonie — egal ob sie sich in Verzweiflung oder Lächeln äußert.
Und
hierin hat auch die künstlich verrätselte Kunst ihre Schuld und der
Kulturbetrieb seine machterhaltende Funktion, denn das Maß der Verunsicherung
ist wiederum maßgeblich für die Suggestierbarkeit und damit die Beherrschung
des Menschen.
1.10.3.
Überschwemmung statt Zensur
Eine
Zensur würde die Illusion von der Freiheit als Lüge entlarven. Dieser Satz
impliziert die Behauptung, wir hätten keine Freiheit oder sie nicht in dem Maße,
wie es dem Menschen in seinem derzeitigen Entwicklungsstand angemessen wäre,
und er stellt sich gegen die Behauptung, die Gesellschaft zerfalle aufgrund
eines Übermaßes an Freiheit. Das Wort Freiheit ist vermutlich eines der
umstrittensten, und nimmt man all die Taten, die angeblich im Dienste der
Freiheit geschahen, hinzu, auch eines der am meisten
mißbrauchten Wörter.
Freiheit
hat einen voraussetzenden Aspekt, die Unabhängigkeit, und einen erfüllenden,
die Fähigkeit.
Es
könnte die Staatsgewalt argumentieren, daß ihre grundgesetzliche Aufgabe nur
darin bestehen kann, die Voraussetzungen zu liefern, und inwieweit der
Mensch sich die Fähigkeit zur Freiheitsausübung aneignet, ist seine
Privatangelegenheit. Daß es zur Erlangung dieser Fähigkeit gewisser Kenntnisse
bedarf, ebenso wie der Abwesenheit von falschen Vorurteilen und irrationalen
Motiven, ist klar, und es ist anzunehmen, daß es eher die Ausnahmen sind, die
darüber verfügen. Aber auch der Blick auf die Voraussetzungen zeigt, daß
Redefreiheit und Wahlfreiheit eine Unabhängigkeit nur formal
garantieren, denn die Kultivierung der Suggestierbarkeit durch allumfassende
Verunsicherung erzeugt letztendlich eine Abhängigkeit von offener und
noch wesentlich intensiver — da weniger bemerkt — von anonymer Autorität.
Trotzdem die Verhältnisse im Allgemeinen so sind, daß sie den Menschen immer
wieder in Abhängigkeiten manövrieren und seine Fähigkeiten beschränken,
gelingt es einigen dennoch, selbstbestimmte Schritte zu gehen, gesellschaftliche
Prozesse gänzlich neu zu kreieren, zu forcieren, zu bremsen oder sogar zu
verhindern, also individuell wirksam zu werden. Vereint sich das objektiv
Notwendige mit dem subjektiv Gewollten und findet seine Lösung im tatsächlich
Richtigen, ist das aus meiner Sicht Freiheit und Verantwortung zugleich. Ist das
Richtige evident und potentiell überzeugend, hat es die Eigenschaft, alle
anderen, die nicht an diesen Punkt gelangen wollen oder können, bewußt oder
unbewußt zu ängstigen. Die Masse derer, die sich davon angegriffen fühlen,
ist trotz aller sonstigen Dumpfheit dafür höchst sensibilisiert. Obwohl jeder
einzelne ansonsten gern seine Individualität betont, treten sie den ersten
Knospen der Freiheit geschlossen entgegen. Dafür bedarf es keiner lenkenden
Hand. Im Innersten weiß nämlich jeder, worin richtiges Handeln bestünde,
nur er kann und will nicht über seinen Schatten springen, er will sich von
seinen Abhängigkeiten nicht trennen, nicht das Risiko der Freiheit und die Last
der Verantwortung auf sich nehmen, nicht an das erinnert werden, was er mühselig
verdrängt. Die gewonnene Freiheit einzelner zu verbieten, zu zensieren, hieße
ja schon eine gewisse Mindeststärke aufzubringen, nämlich dem eigenen Verdrängten
ins Auge zu blicken. Diese Härte hat man heute nicht mehr, dafür aber weichere
Methoden der zeitgenössischen Materialschlacht: das Störende wird einfach überschwemmt.
Das gelingt ganz ohne Verschwörung, ohne planendes Oberhaupt, einfach weil sich
empirisch das herauskristallisiert, was für die heutigen gesellschaftlichen
Bedingungen am meisten passabel ist. Also, in Bezug auf die Kunst, was den
Kriterien unserer konkreten Kultur adäquat ist:
1.10.3.1.
Infragestellung von Qualitätsmaßstäben
Eine
Weiterentwicklung kann einen notwendigen Bruch mit dem Alten bedeuten, ohne daß
es dabei zur Veränderung der Maßstäbe kommen muß; manchmal muß es aber dazu
kommen, wenn die alten Maßstäbe sich als zu eng zeigen oder die Entwicklung
einen Weg geht, wo früher nie ein Maß genommen wurde. Daß aber, wie es heute
in weiten Teilen der Kultur der Fall ist, gänzlich auf Qualitäts-Maßstäbe verzichtet
wird, hat seine Ursache nicht in solcher Weiterentwicklung. Jedenfalls führt diese
Erweiterung des Kunstbegriffes zur Anspruchslosigkeit. Wenn Kunst alles sein
kann, was sich als solche etikettiert, dann gibt es logischerweise ziemlich viel
davon.
1.10.3.2.
Flexibilisierung unserer Wegwerfgesellschaft
Weil
wir eine jugendlich-frische Gesellschaft sind, wird dem Vorläufigen und
Sporadischen mehr Authentizität zugebilligt als dem lang Durchdachten, unter
ernster Selbstkritik zur Vollkommenheit Gebrachten, als wäre jedes Verbessern
mit Künstlichkeit und Lüge verbunden. Der geringe Herstellungsaufwand macht im
Falle eines späteren Modewandels oder anderer wertmindernder Tatsachen die
Entsorgung dieser oberflächlichen Produkte weniger schmerzlich.
1.10.3.3.
genügend Produzenten
Indem
zunehmend Menschen ihr Selbstwertgefühl in der Befreiung von körperlicher
Anstrengung beim Arbeitsprozeß widerspiegelt sehen und deswegen eine
»geistige« Arbeit suchen (um dann ihr Bewegungsdefizit durch Sport
auszugleichen) und andererseits unsere Produktionsverhältnisse die Ausbeutung
anderer Nationen favorisieren, was immer mehr eigene Arbeitskräfte freisetzt,
die dann in den Kunst und Ideen produzierenden Sektor eindringen, ist dieser an
Produzenten reich gesegnet.
Da
es systemerhaltend ist, die Ursachen psychischer Störungen, seelischer und
nervlicher Schmerzen zu verdrängen, und lieber die Symptome wegzutherapieren,
und Kunst nicht nur für Patienten, sondern für breite Bevölkerungsschichten
anfängt, eine Rolle innerhalb therapeutischer Maßnahmen zu spielen, erfolgt
auch von dieser Seite eine Bereicherung des Marktes.
1.10.3.5.
Förderung durch Industrie
Bereits
mittelständige Unternehmen zeigen auf ihrer Homepage unter der Rubrik
Engagement, wie sie sich neben Fußball auch für Kunstförderung einsetzen.
Diese industrielle Eigeninitiative, die sich in Sponsoring, Stipendien oder
Ankauf äußert, hat natürlich nicht die Weiterentwicklung kunstimmanenter
Erkenntnisse und Realisierungen zum Anliegen, auch wenn sie ständig das Wort
»innovativ« im Munde führt, sondern vielmehr soll das Firmenideal durch die
Kunst reflektiert und gerechtfertigt werden. Auffällig ist nämlich, daß auch
gleich mit angewiesen wird, worin das Innovative besteht: Verwendung neuer
Materialien, Medien, Technologien oder Kommunikationsmittel je nach Palette des
Unternehmens. Zweifellos wird die Kunst damit technisch bereichert und
als Gegenwert wird ihr ein Imagetransfer abverlangt: erst wird der Kunst der
Nimbus des Intellektuellen aufgebaut, damit sie dann auf Automessen, als
Garnierung eingesetzt, die Fahrzeuge vergeistigen und ebenso als Kunstwerke
erstrahlen lassen soll.
Zimmereinrichtungsbeispiele
in Warenhäusern zeigen Kunstwerke, deren ästhetischer Reiz so mancher
Gardinenstange unterlegen ist und den Schluß nahelegen, sie wären eigens dafür
hergestellt, die angebotenen Möbel aufzuwerten. Doch all dies wird vom größten
Teil unserer Bevölkerung zur Kunst hinzugerechnet.
Die
Besinnungslosigkeit und Unersättlichkeit unseres auf Verschleiß ausgerichteten
Konsumverhaltens hat sich nicht nur an diese Flut von Kunstwerken gewöhnt,
sondern scheint sie zu gebrauchen. In keiner anderen Branche wäre solche Überproduktion
geduldet, die nur in der Kunst möglich ist, weil durch das immer weitere
Herabsenken des geistigen, zeitlichen und materiellen Aufwandes die Kosten sich
weitgehend auf das Marketing beschränken lassen.
Überhaupt
widerspiegelt diese spezifische Form der Zensur durch Überschwemmung das
unökonomische Wesen unserer ungeplanten Wirtschaft: ein Verbot wäre mit
weniger Verschwendung verbunden.
Ich
habe in den letzten Punkten versucht zu zeigen, daß durch die Legierung selbst
völlig unterschiedlicher Interessen die Kunst in die Rolle manövriert wurde,
die sie zur Aufrechterhaltung des Polit-, Finanz-, Wirtschafts- und Militärestablishments
zu spielen hat. Dies gelingt ihr einerseits durch Verstörung und andererseits
durch Eindämmung von Freiheiten bei gleichzeitigem Vortäuschen fast
grenzenloser Freiheiten. Diese Mission, zu der sie instrumentalisiert wird,
gelingt, ohne daß ihr dabei vorgegebene Aussagen abverlangt werden. Hierin
unterscheidet sie sich grundsätzlich von Propagandakunst. Aber sie
unterscheidet sich auch im Erfolg ihrer Wirkung, wie die letzten Jahrzehnte
deutscher Geschichte zeigen, nämlich daß eine gezielte Suggestion wesentlich
wirksamer manipuliert als gezielte Propaganda. Das ist auch verständlich, denn
ein Diktat, mit dem man sich kritisch auseinandersetzen kann, gibt mehr Freiheit
als ein Wirrwarr, welches fähig ist, auch noch jegliche Kritik albernd in sich
einzuverleiben. In der Kunst manifestiert sich das Wirrwarr geschickterweise als
Interpretationsfreiheit, als Denkanstöße vermittelnde Beliebigkeit, die auf
das Wohlwollen der Rezipienten trifft, da sie dem Ganzen die Schwere nimmt. Denn
der Mensch, der in seiner Schwäche immer Illusionen den realen Möglichkeiten
gegenüber bevorzugt, konsumiert lieber diese Pseudo-Freiheit, als daß er die
Last echter Freiheit trüge.
Der
erzieherische Einfluß des heutigen Kunstbetriebes begünstigt auch auf
kunstferneren Sektoren die Aneignung widerspruchslosen Konsumierens. Ein
Konsumieren, welches sich nicht nur auf die Produkte der Industrie beschränkt,
sondern sich auch auf massenmedial vermittelte Informationen ausdehnt, die damit
gebilligt werden, was jener im Interesse von Macht und Profit manipulierenden
Seite die beabsichtigte Handlungshoheit einräumt.
2.
Weigerung und Verantwortung
Auch
wenn der Blick ins Innere der gesellschaftlichen Mechanismen der Wahrnehmung,
der gegenseitigen Beeinflussung, der Konditionierung des Konsumverhaltens bis
hin zur Verteilung der Werte bereits eine Ablehnung der heutigen westlichen
kulturellen Verfaßtheit ausreichend provoziert, soll es nicht unterbleiben,
nach den Hauptgründen zu fragen, die es erzwingen, sich gegen die
herrschenden Spielregeln zu positionieren.
Ungerechtigkeit
ist beim kritischen Arbeiter stets Argument der ersten Wahl. Aber das Recht
folgt der Gewohnheit und diese ist eine Folge der Macht und damit wiederum der
ökonomischen Verhältnisse. Es kann sich, ohne die Verteilung der
Produktionsmittel anzutasten, kein wesentlich anderes Recht etablieren. Wer von
Ungerechtigkeit spricht, sollte sich klar werden, ob das herrschende Recht einem
anderen, besseren Recht weichen soll, welche Eigentumsverhältnisse dann dessen
Grundlage sein sollen, ob diese umstürzlerischen Gedanken ihn nicht eigentlich
erschrecken, oder ob er in seinem Gerechtigkeitsgefühl verstimmt ist, weil die
entsprechende Suggestion versagt hat.
Würde
das Wort Verschwendung nicht so harmlos klingen, könnte man damit fast das
gesamte Übel unserer derzeitigen Spielregeln und Verhältnisse beschreiben. Es
beginnt mit der bereits geschilderten Überschwemmung anstelle einer Zensur, bei
der jedoch nicht nur eine Flut von Kunstwerken produziert wird, sondern alle
Arten von Informationen, die die Wahrheit zu einer nicht auffindbaren Perle
machen und den Taucher in angeblichen Freiheiten ertränken.
2.2.1.
Effizienz durch Schaffung von Bedürfnissen
Einige
spezielle Produkte wären naturgemäß nur für eine kleine
Anzahl von Fachleuten notwendig. Zum Erreichen einer gewissen
Fertigungsrentabilität muß dasselbe Produkt noch mit einer Spaßfunktion
versehen werden, damit es einem allgemeinen Konsum zugänglich gemacht wird. Der Konkurrenzkampf zwingt die Produzenten zur ständigen Erhöhung
der Effektivität, was sich nur durch Steigerung der produzierten Stückzahlen
und maximale Auslastung sämtlicher Produktionsmittel realisieren läßt. Um den
Neukauf zu stimulieren, werden viele technische Artikel in ihrer Haltbarkeit
gezielt limitiert.
Wenn
es dabei dazu kommt, daß auf 5 notwendige 95 überflüssige Erzeugnisse
produziert werden, läßt sich das nur finanzieren und vertuschen, indem der
gesamten Weltbevölkerung entsprechende Bedürfnisse oktruiert werden, was
allerdings voraussetzt, und das ist das Schreckliche daran, daß die
Befriedigung unbedingter Bedürfnisse (Entwicklung zur individuellen Persönlichkeit
und Überwindung der Individuation durch Liebe und Verantwortung) verhindert
wird. Der Begriff Überflußgesellschaft stimmt, insofern er ausdrückt, daß
das Überfließende überflüssig ist.
Verschwendung
resultiert auch daraus, daß das menschliche Wirtschaften (als wesentlichster
Bestandteil der Kultur) einen regressiven Weg eingeschlagen hat, indem es
Entwicklungsprinzipien aus der Natur entlehnte. Dieser Gedanke muß näher erklärt
werden und voraussetzenderweise auch meine Sicht auf die Begriffe Kultur und
Natur. Voranstellend will ich definieren, daß sich beide voneinander ausschließen
und gemeinsam die Totalität alles Existierenden und Denkbaren umfassen.
Das
Entwicklungsprinzip der Natur liegt im unreflektierten Zufall. Unzählige
Versuche werden gestartet, von denen nur ein geringer Teil in den Rahmen des möglichen
Überlebens fällt. Und auch von jenen wird der größte Teil wiederum durch
Konkurrenz verdrängt. Das gilt langfristig für die Evolution, die das Leben
durch eine Reihe von temporären Gleichgewichtszuständen führt und
mittelfristig für die Sukzession, die nach einer Störung (Naturkatastrophe,
menschliches Eingreifen) diese Gleichgewichte standortentsprechend wieder
einstellt. Und es gilt unvermindert auch kurzfristig, wenn es um die Erhaltung
dieser Gleichgewichte, also um die Nachkommen geht: eine Pappel produziert 25
bis 50 Millionen Samen pro Jahr, diese Menge schafft ein Champignon pro Stunde
und ein Riesenbofist erzeugt 7 Billionen Sporen in einem Jahr. Diese Zahlen
geben einen guten Eindruck von der, mit der Blindheit verbundenen, Anstrengung,
die die Natur vornehmen muß, um sich selbst zu reproduzieren. Der Gedanke dabei
an Verschwendung kommt erst aus der Sicht menschlicher Kategorien, denn die
Natur kennt keine Planung. Es ist eben kein Ausdruck von Planung, wenn
den Samen Flügel wachsen oder Tiere Wintervorräte anlegen, sondern Resultat
einer zufälligen Fügung innerhalb der Evolution. Bestand gewinnen diese Fügungen
insofern sie die Überlebenschancen der Art erhöhen. Wenn dabei die
Wehrhaftigkeit wächst (anderen Arten weniger als Nahrungsquelle zu dienen) oder
sich Fähigkeiten ausdifferenzieren (Mobilität, Anpassung, Nachkommenfürsorge),
kann das, was wir als eine Höherentwicklung ansehen, darin bestehen, immer
weniger Nachkommen zur Konstanthaltung der Population haben zu müssen. Doch
erst beim Menschen kommt der Quantensprung. Durch besondere Lern- und Denkfähigkeit
hat er ein Leistungsvermögen erworben, über das kein Tier verfügt: das
Planen. Mit dem Prinzip Analyse und Synthese ist der Blick in Vergangenheit und
Zukunft verbunden, d.h. das eigene Tun zu reflektieren und eventuelle Möglichkeiten
zu prognostizieren und Entscheidungen zu treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt muß
sich ein enormes Vorstellungsvermögen entwickelt haben. Für mich liegt
deswegen der Unterschied zwischen Mensch und Tier auch nicht in der Benutzung
von Feuer, Werkzeugen oder Sprache, sondern der prägnanteste Ausdruck des
menschlichen Wesens besteht im Planen; und genau das ist Kultur.
Kultivieren
heißt, von der Nahrung einen ausgewählten Teil als Saatgut übrig zu lassen,
von einer Fläche die Steine wegzuräumen, damit sie als Acker dient, Bewässerungsgräben
anzulegen, Fallen zu bauen, Behausungen und Geschirr. Der Begriff Kulturlandschaft
beschreibt diese ehemaligen Naturlandschaften, die der Mensch zu seiner Nutzung
vorausschauend verändert hat. Voraussetzung der Planung ist eine Vorstellung
vom gewünschten Erfolg und ihr Ziel ist, ihn mit möglichst wenigen
Versuchen zu erlangen. Seitdem dem Menschen der Schutz vor natürlichen Feinden
und die Sicherung des Existenzminimums ausreichend gelang, besteht der zentrale
Ausdruck der Kultur in der wirtschaftlichen Verwaltung der Güter. Die
zwischenmenschlichen Prinzipien der Kultur sind Kooperation und Kritik und nicht
Konkurrenzkampf, welcher der Kultur völlig wesensfremd ist. Im Paradigma der
Kultur gibt es keinen Grund, eine ganze Reihe von Startern für dasselbe Ziel
ins Rennen zu schicken, von denen alle bis auf einen sich umsonst abmühen. Denn
es ist absurd, wenn die Menschheit sich einerseits nicht das geistige Niveau
zubilligt, im Vorfeld richtige Entscheidungen zu treffen, andererseits aber ein
Vielfaches des geistigen Aufwandes aufbringt, um im Konkurrenzkampf die
gegnerischen Versuche auszuschalten (nichts anderes sind Werbung und Marketing).
Aus dem Blickwinkel der menschlichen Kultur (und keinen anderen kann man nach längerer
Überlegung annehmen) erscheint der Kapitalismus insofern als regressive
Perversion, da er die unreflektierten Zufallsprinzipien aus der Natur für den dynamischen
Teil seines Wirtschaftens entlehnt. Zur primären treibenden Kraft hat sich das
Kapital herauskristallisiert und seine religiöse Verehrung eingefordert: es
gibt keinen Lebensbereich mehr, egal wie privat, der nicht in Kapital
umgewandelt und maximal ausgebeutet wird. Selbst stimmungsaufhellende
Psycho-Ratgeber stellen klar: Fröhlichkeit ist Kapital. Spielregeln und
steuerliche Gesetze zwingen den Menschen, das, was er hat, auszubeuten.
Brachliegendes wird durch seine Unrentabilität bestraft. Der mit dem Diktat zur
Effizienz zwangsläufig verbundene Konkurrenzkampf wird als »Motor der
Entwicklung« rationalisiert. Nicht immer gelingt diese positive Sichtweise,
denn die Opfer, die der Konkurrenzkampf hinterläßt, lassen sich nicht überall
verbergen. Dann treten die Moralisten auf den Plan: der Wolfskapitalismus ist böse,
man muß ihn kultivieren (siehe da!), aber er ist leider unumgänglich.
Denn er wird (statt ihn zu kultivieren — das hieße abschaffen) biologistisch
gerechtfertigt: die Nutznießer des Status quo und seiner repressiven Moral und
alle anderen passionierten Pessimisten postulieren ein Menschenbild, das wie
eine Kopie der kapitalistischen Gesellschaft ist. Man muß nur richtig
hinschauen und schon findet sich ein Gen, das für Aggression, Depression,
Konkurrenztrieb oder Besitzgier verantwortlich ist. Und wenn
nicht, tut′s ein Verweis auf die Tierwelt. »Tiere kämpfen
miteinander aus ein oder zwei guten Gründen: entweder wollen sie sich einen
Rang in einer hierarchisch geschichteten Gesellschaftsordnung erkämpfen, oder
sie wollen sich einen territorialen Anspruch auf ein Stück Land erobern. Manche
Arten haben eine strenge soziale Rangordnung, jedoch keine festen Reviere.
Andere besitzen feste Reviere, kennen aber keine Hierarchie. Und es gibt schließlich
auch Arten mit Rangordnung und Revierbesitz — sie haben es also mit beiden Gründen
der Aggression zu tun. Zu dieser Gruppe gehören wir, und dementsprechend gibt
es bei uns Aggression auf beiderlei Art.« Das ist die Analyse von Desmond
Morris, der übrigens — komischer Zufall — derjenige Verhaltensforscher ist,
der sich mit dem bereits erwähnten malenden Affen Congo einen guten
Nebenverdienst gesichert hat. Auf der Basis solcher Theorie der menschlichen
Natur kann nun festgestellt werden, daß allein die wirtschaftlichen und
politischen Verhältnisse der heutigen westlichen Welt dem angeborenen Wesen des
Menschen adäquat sind — wir sozusagen am Ende der Geschichte angekommen sind — und alle Überlegungen bezüglich einer besseren Welt, so grausam wie die
heutige auch ist, nur fromme Wünsche sind, auserkoren von unrealistischen Träumern,
die nicht wahrhaben wollen, daß sich der Mensch nicht auf Dauer unter einer ihm
wesensfremden Diktatur halten läßt. Schließlich sind ja auch alle derartigen
Versuche kläglich gescheitert.
Die
biologistische Ideologie möchte vor allem den Fakt wegbeten, daß es innerhalb
der Ökonomie geplant zugehen könnte. Deswegen kann sie nicht zu dem Schluß
kommen: wir sind eine Kultur, sondern es gelingt ihr nur die Abspaltung:
wir haben eine Kultur. Das Leichte und Schöne — Kunst, Unterhaltung
und Sport — ist also Kultur und was ist der Rest — Ökonomie, Politik und
deren offene und verdeckte Feldzüge — vielleicht tierischer Ernst? Und
diesem Gebrauch entsprechend meint der Radioansager, wenn er von Kulturlandschaft
spricht, die Anzahl von Kinos und Theatern.
2.2.2.3.
Aufeinandertreffen von Natur und Kultur
Abschließend
zur Begriffsbestimmung von Natur und Kultur muß noch genannt werden, worin sich
beide berühren. Der scheinbare Dualismus, daß Elemente beiden Mengen zugleich
zugeordnet werden können, ist nicht in einer Unschärfe der Grenzen begründet,
sondern in der Heterogenität dieser Elemente. Der Mensch, so wie die Evolution
ihn hervorgebracht hat, ist Teil der Natur, aber die Pläne, die in seinem
Gehirn reifen, sind bereits Kultur. Wer die Grenze zwischen Natur und Kultur
spitzfindig ausreizen will, könnte argumentieren, daß auch der Affe Pläne
verwirklicht, wenn er auf einen Hocker klettert, um an die Frucht zu gelangen.
Ist das schon Kultur? Planung hieße, den Hocker vorausschauend für den nächsten
Fall mit sich zu führen. Planung beinhaltet die Fähigkeit vom Gegenwärtigen
zu abstrahieren und den Blick in die Zukunft zu richten, und hierbei hat der
Mensch eine Eigenheit, die im Tierreich völlig undenkbar ist: er kann seine Pläne
(und oftmals kann er es leider nicht lassen) nachfolgenden Generationen
auftragen und so Kultur akkumulieren. Allerdings kann nicht gesagt werden, daß
alle Gehirntätigkeit des Menschen Planung ist. Fehlendes Vorstellungsvermögen
und Ungeduld lassen es oft nicht zu, daß er die Verhältnisse analysiert,
versteht, darauf aufbauend eine These aufstellt, um dann den wohlüberlegten
Schritt zu gehen, der eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit hat.
Es
ist deswegen nicht ganz falsch, wenn er sich, auf seine Intuition verlassend,
herumprobiert, da das manchmal der schnellere Weg ist. Paradox ist dabei das
Diktat der Effizienz: lag sie früher in der Abkehr von Empirie z.B. darin, daß
ein Chemiker lange auf dem Gebiet der Struktur-Wirkungs-Beziehung forschen
musste, um nur eine Substanz zu synthetisieren, die die beabsichtigte Wirkung
aufweist, kommt es heute zu einer Renaissance der Empirie, da es mit Hilfe
computergesteuerter Methoden effektiver ist, zehntausend von überall
zusammengetragene Substanzen testen zu lassen und die wirksamste auszuwählen.
Neben
der Frage nach den Grenzen zwischen Natur und Kultur gibt es noch eine viel
wichtigere, die nach der gegenseitigen Beeinflussung.
»nature
to be commanded must be obeyed« schrieb vor knapp 400 Jahren Francis Bacon. Es
ist klar, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Doch genau genommen, kann
der Mensch die Natur nie beherrschen — er kann sie nutzen oder partiell zerstören.
Wenn er sie nutzen will, muß er ihr gehorchen. Wenn er sie schützen will, dann
meint er damit lediglich, daß er sie vor den schädlichsten Auswirkungen seiner
eigenen Kultur schont. Das kann er nur sich selbst und nicht der Natur zuliebe
tun. Ihr ist jeder Störfall als Bereicherung recht. Die kreativen Fähigkeiten
des Menschen führen zwangsläufig beständig dazu, daß er aus seinem
Lebensbereich natürliche Prozesse verdrängt und durch geplante ersetzt. Doch
er sollte nicht den Fehler begehen, kulturelle Lösungen dort zu suchen, wo die
Natur schon Lösungen bereit hält, denn die Aufrechterhaltung eines kulturellen
Zustandes ist immer viel aufwendiger, als die eines natürlichen. Der Mensch ist
nicht nur damit beschäftigt, die Landschaft zu gestalten, sondern auch die
Gesellschaft. Er kann das aktiv und planend vornehmen oder diesen
Gestaltungsprozeß irgendwelchen treibenden Kräften überlassen, die einst in
Gang gesetzt wurden, ohne daß sie etwas von den menschlichen Bedürfnissen wußten,
so daß bei entstehendem Leidensdruck korrigierend eingegriffen werden muß.
Egal welchen Weg oder welche Kombination von Wegen der Mensch einschlägt, er
ist immer damit konfrontiert, daß die Gesetze der Natur seine Wege kreuzen
werden. Sowohl in der unbelebten als auch in der belebten Natur ist das
Aufeinandertreffen der verschiedenen ablaufenden Prozesse phänomenologisch
gesehen zufällig, jedoch jeglicher Prozeß selbst ist einer strengen Gesetzmäßigkeit
unterworfen, die nicht nur den Prozeß, sondern die gesamte Materie
strukturiert. Der Mensch kann diese Gesetzmäßigkeiten in Gesetzen oder
Modellen verdichtet im Bewußtsein reflektieren, verzerrt reflektieren, sehr
bedingt reflektieren oder ignorieren. Abhängig davon werden die Resultate der
geplanten oder ungeplanten Gestaltung stabil, metastabil und störanfällig,
stabil nur unter sehr hohem Aufwand oder instabil und unbrauchbar sein.
2.2.3.
Die thermodynamischen Übergänge eines Systems
Bevor
ich diese, bereits eine thermodynamische Sichtweise berührenden Gedanken, die
mich in einen weiteren Komplex der Verschwendung führen, fortsetzen will, möchte
ich quasi als Übergang dahin zwei andere Phänomene erwähnen: den Idealismus
und die Dialektik von Erscheinung und Wesen.
Es
ist Idealismus (im engeren Sinn), wenn aus der Kritik einer unerträglichen Lage
heraus Wünsche entwickelt werden, die diese Lage erträglicher machen sollen.
Da sich bekanntlich diese Wünsche selten von heute auf morgen verwirklichen,
bleibt den Wünschenden genügend Zeit, sie zu einem großen Ideal aufzubauen.
Insofern das Hauptmotiv solchen Ideals vor allem darin besteht, vom schlechten
Zustand wegzuführen, ist es wenig wahrscheinlich, daß es automatisch zu
einem stabilen, natürlichen Zustand hinführt. Mag der idealisierte
Zustand vorerst als der angenehmere erscheinen, kann sich herausstellen, daß zu
seiner Aufrechterhaltung Maßnahmen notwendig sind, die wiederum Zwänge
verursachen, oder daß er innerer Widersprüche wegen instabil ist, ja nicht
einmal klar definiert werden kann. Und es ist nur logisch, daß vom kritisierten
Punkt aus sehr verschiedene divergierende Ideale wegführen können, die alle
meinen, das Problem zu lösen. Das macht z.B. die Naturschutzszene so
zersplittert: die einen glauben, daß man die moderne Technik weiterentwickeln
muß, um auch der Natur ein schönes Zuhause zu bieten, andere möchten alle
Lebewesen schützen — wirklich alle, auch Krankheiten übertragende Insekten — auch pathogene Bakterien — wie verträgt sich das mit Desinfektion? Und
dann gibt es auch den Extremfall: ein Amtsleiter Naturschutz vom Landratsamt und
Vorsitzender des NaBu Freiberg unterbrach mich in einer Diskussion mit folgendem
Statement: «Konsequenter Naturschutz ist nur durch die Ausrottung der
Menschheit möglich.« Hierin zeigt sich erstens, daß die Kritik nicht vom
Ziel her entwickelt wurde und zweitens, daß man sich das Ziel nicht einmal
eingestehen könnte. Denn hinter dem zweiten Aspekt steckt das negative
Menschenbild und das damit verbundene Schuldgefühl. Wäre das nicht so, könnten
Naturschützer und andere Idealisten unbekümmert formulieren, daß es legitim
und anstrebenswert ist, wenn die Menschheit sich mit geringstem Aufwand das
größte Wohl verschafft. Egoismus dies zu nennen, wäre hier der
deplazierteste Gedanke. Und dennoch kommt er den meisten verbunden mit mehr oder
weniger schlechtem Gewissen. Die einen haben sich mit ihrem Egoismus abgefunden
und nehmen ohne Skrupel in Anspruch, was sich ihnen anbietet (manchmal auch das,
was sich ihnen nicht anbietet) und die anderen blicken voller Scham auf den
Egoismus (den eignen und vor allem den der anderen) und wollen ihm ein hehres
Ideal entgegensetzen. Trotz aller Unterschiedlichkeit machen beide den
gemeinsamen Fehler, dem Menschen angeborene egoistische Instinkte anzudichten,
statt zu verstehen, daß der Egoismus die krampfhafte Gier, dem eignen Körper
und Geist eingebildete Vorteile zu sichern, darstellt, die aus einer Reihe
vorangegangener Frustrationen herrührt. Aber der Glaube an den genetisch
festgeschriebenen Egoismus ist nicht nur eine Fehl-Interpretation, sondern eine
gezielte. Es ist die Rechtfertigung der Entmutigten, warum sie einer
gesellschaftlichen Umgestaltung ablehnend gegenüber stehen und es ist die
Ideologie derer, die glauben, daß sie vom Status quo profitieren und auf die
Entmutigung der anderen angewiesen sind.
Würde
der Menschheit klar werden, daß der Egoismus ein Kulturprodukt ist, könnte sie
auch zu dem Gedanken vordringen, daß es einen Genuß für alle geben kann, der
nicht auf Kosten eines Leidtragenden geht; könnte sie dort ihr Ziel suchen. Als
erste Näherung dafür hatte ich ein paar Sätze zuvor das Wohlbefinden pro
Aufwand genannt. Das klingt wie die Maximierung eines Wirkungsgrades und damit
im Vergleich zu vielen sozialen und religiösen Utopien ziemlich technisch, und
nicht nur bei manchem Esoteriker wird das zu Bauchschmerzen führen. Doch dieses
vorerst abstrakte Ziel erhält seine Bereicherung mit zunehmender Präzisierung
der Begriffe dergestalt, daß beim Bilanzieren eine Totalität angestrebt werden
muß. Im Aufwand vereint sich nicht nur der ökonomische, sondern der ökologische
und psychoenergetische und das nicht nur auf die Gegenwart beschränkt. Und was
des Menschen Wohl ist, kann nicht geklärt werden, ohne die Natur des
Menschen zu kennen, seine angeborenen Möglichkeiten und Bedürfnisse und die
daraus zwangsläufig resultierenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine
Theorie des Menschenbildes wird benötigt, die unter Beweis stellen kann, daß
sie frei von rationalisierender Argumentation ist. Ein Ziel, welches in — nennen wir es mal so — dieser Wirkungsgradmaximierung besteht, wäre unabhängig
vom Zustand des Kritisierenden und seiner kurzsichtigen Wunschvorstellungen. Zum
Beispiel erscheint uns heute das als »bester Staatszustand« von Thomas Morus
angepriesene Utopia gar nicht mehr so verlockend und selbst damals vor 500 Jahren
hat es Völker gegeben, die menschlicher lebten.
Um
es zusammenzufassen: Ausgangspunkt für angestrebte Veränderungen muß das klar
definierte Ziel sein. Die Kritik an den Zuständen kann dem Ziel
Aufmerksamkeit verschaffen, aber je mehr sie sich bei der Formulierung des Ziels
einmischt, desto verwaschener wird das Ziel. Und die Empörung über die
Zustände ist gänzlich reaktionär, weil sie eine Lähmung und deren
Rationalisierung zugleich ist, nämlich wenn sie stellvertretend für eine
wirkliche Tat vorgebracht wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch,
daß gewöhnlich noch vor der Kenntnis des Ziels am Weg dahin gezweifelt wird.
Soweit meine Kritik an einem Verfahren, das aus der Unzufriedenheit kommend ein
Ideal nach dem Gustus gangbarer Wege definiert.
2.2.3.2.
Erscheinung und Wesen
Zur
Dialektik von Erscheinung und Wesen möchte ich nur soviel sagen, wie für das
Verständnis des nachfolgenden thermodynamischen Modells notwendig ist. Der
Begriff Wesen bezieht sich auf eine Menge von Elementen und beschreibt dabei
eine innere Konstruktion, die allen Elementen eigen ist, sie deswegen zu
Bestandteilen der Menge macht und nicht bei Elementen vorkommen kann, die von
dieser Menge ausgeschlossen sind. Das abstrakte nicht»wirkliche« Wesen
des Menschen ist nicht das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«,
sondern es besteht in der biologischen Verfassung des Menschen, die die Fähigkeit,
diese zu transzendieren und Kultur zu schaffen, einschließt. Allerdings gehört
die Kultur, die er schafft, nicht mehr zu seinem Wesen; sie ist bereits die
konkrete historische Erscheinung des Wesens. Sie wird geprägt von den
Spielregeln des Produzierens, aller Austauschprozesse und des Konsumierens; den
daraus resultierenden Einflußverhältnissen und von dem Kampf zwischen
Aufrechterhaltung und Veränderung der Spielregeln. Nicht minder wird sie von
den Vorgaben der Umwelt (Nahrung, Klima, Bevölkerungsdichte) geprägt.
Plausiblerweise kann die Kultur je nach Ort und Epoche völlig unterschiedliche
Formen einnehmen und ihre Spielregeln können dem menschlichen Wesen mehr oder
weniger adäquat gegenüber stehen. Daß das menschliche Wesen, trotz der
enormen Plastizität seiner Realisierungsmöglichkeiten, die Befriedigung unbedingter
privater und gesellschaftlicher Bedürfnisse des Konsumierens und der
Selbstverwirklichung einfordert, dürfte jedem klar sein. Die Diskrepanz also
zwischen diesen Bedürfnissen einerseits und ihrer nur teilweisen Befriedigung
verbunden mit dem Aufzwingen fremder Bedürfnisse andererseits, ebenso wie die
Diskrepanz zwischen Selbstverwirklichung oder Akzeptanz einer von der
Gesellschaft vorgegebenen Rolle; kurz die Differenz zwischen der dem Wesen adäquaten
und der konkreten (eventuell inadäquaten) Erscheinung soll Entfremdung
genannt werden. Hierbei stoßen wir auf vier Probleme. Erstens, daß wir Rückschlüsse
über ein Wesen nur durch seine Erscheinung ziehen können, die uns in der
Praxis jedoch immer in ihrer entfremdeten Variante entgegentritt und den Blick
auf das Wesen mehr oder weniger stark verzerrt. Zweitens, daß wir, solange uns
das Wesen noch verborgen ist, auch dessen adäquate Erscheinung nicht kennen und
somit keine Aussagen über die Entfremdung machen können. Drittens, daß die adäquate
Erscheinung ein Theoretikum ist, aber kein Fixpunkt, sondern eine von objektiven
Randbedingungen abhängige Funktion, an die sich einst unter Abbau der
Entfremdung die historische Erscheinung asymptotisch annähern wird. Und
Viertens, daß die Entfremdung, die die Folge der inadäquaten Erscheinung
(Kultur) ist, auch gleichzeitig als deren Ursache ausgleichend oder aber rückkoppelnd
wirkt. Aus dem letzten Punkt ist ersichtlich, daß die Kultur kein statisches
Gleichgewicht ist, aber sie kann über einen bestimmten Zeitraum hinweg die Form
eines dynamischen Gleichgewichtes einnehmen. Einen zeitlich und territorial
abgegrenzten Gesellschafts- aber auch Materieausschnitt, der sich in solch einem
dynamischen Gleichgewicht befindet, möchte ich im folgenden als System
bezeichnen.
2.2.3.3.
Systemstabilisierungsenergie
Der
Zustand eines Systems ist durch die Beziehungen aller Elemente untereinander
gekennzeichnet und unter Änderung dieser Beziehungen kann das System in einen
anderen Zustand wechseln. Es ist davon auszugehen, daß es eine sehr große
Anzahl unterschiedlicher Zustände gibt, die das System einnehmen oder
nacheinander durchlaufen kann. Im stabilen Zustand, selbst wenn er nur für eine
minimale Dauer ist, befindet sich ein System dann, wenn es einer
Aktivierungsenergie bedarf, um in einen anderen Zustand zu wechseln, das System
sich sozusagen in einer Potentialmulde befindet. Verteilt man die verschiedenen
Zustandmöglichkeiten des Systems behelfsweise zweidimensional, ergibt sich eine
Landschaft, gekennzeichnet von unterschiedlich tiefen Potentialmulden, umgeben
von Potentialwällen, soweit ausdifferenziert, daß auch innerhalb der einzelnen
Mulden wieder tiefere Mulden und Wälle auftreten können.
Diese
Potentiallandschaft beschreibt in der z-Dimension die potentielle Energie aller
einnehmbaren Zustände des Systems, wobei ich davon ausgehe, daß es sich nur um
negative potentielle Energie handelt, die ihren höchsten Wert (Null) in einem
Zustand hat, wo keine Beziehungen zwischen den Elementen vorliegen. Die
potentielle Energie ist die Energie, die ein ruhendes System in einem stabilen
Zustand hat, oder die Energie, die das System verbraucht, um in einem bestimmten
Zustand stabil zu sein. Sie soll in diesem Modell Systemstabilisierungsenergie
genannt werden. Der Begriff wird plausibel, wenn man sich vorstellt, daß ein
Teil der Beziehungen, die die Elemente im System untereinander haben, eine
destruktive Wirkung ausübt, während ein anderer Teil der Beziehungen
(Spielregeln) diese gerade so kompensiert, so daß sich das dynamische
Gleichgewicht einstellt. Hieraus wird klar, daß in der Summe aller dieser
Beziehungen die Ursache für das Maß der Systemstabilisierungsenergie liegt.
Somit wird die Potentiallandschaft geprägt von den hypothetischen Zuständen
des Systems, in denen unterschiedliche Spielregeln herrschen. Und es ist zu
beachten, daß die, das System stabilisierende potentielle Energie, im System
eingeschlossene, also nicht anderweitig nutzbare Energie ist, von der erst dann
ein Differenz-Betrag frei wird, wenn das System unter Zufügung von
Aktivierungsenergie über den Potentialwall hinweg in eine tieferliegende
Potentialmulde gebracht wird. Obwohl einzelne Elemente des Systems über die
kinetische Energie verfügen, die zur Überwindung des Potentialwalls nötig
ist, muß zur Überführung des gesamten Systems in einen anderen Zustand die
Aktivierungsenergie gewöhnlich von außen zugeführt werden. Diese Verhältnisse
lassen sich leicht an einem Beispiel erklären. Betrachten wir für ein System,
welches aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht, den Übergang vom Zustand 2H2
und O2 in den Zustand 2H2O. Das Ausgangsgemisch soll eine,
für die Reaktion nicht ausreichende, Temperatur haben. Doch diese ist
nur der phänomenologische Ausdruck der Gesamtheit aller verschiedenen kinetischen
Energien der Teilchen im System. Dabei gibt es gemäß der
Maxwell-Boltzmann-Verteilung neben energiearmen Teilchen einen Großteil mit
mittlerer und sehr wenige mit besonders hoher kinetischer Energie, die für
einen reaktiven Zusammenstoß ausreicht. Doch diese Teilchen sind innerhalb des
Systems räumlich gleichermaßen verteilt. Darum ist die Wahrscheinlichkeit, daß
ein sehr energiereiches Wasserstoffmolekül mit einem ebenfalls sehr
energiereichen Sauerstoffmolekül tatsächlich so aufeinanderprallt, daß beide
in einer chemischen Reaktion zu Wasser reagieren, äußerst gering, allerdings
nicht gleich Null. Sollte eben dieser Zufall eintreffen, dann wird, weil das
entstehende Wasser ein viel geringeres chemisches Potential hat, bei dieser
exothermen Reaktion Energie frei, die nun quasi von außen benachbarten
(wiederum auch energiereichen) Teilchen die fehlende Aktivierungsenergie
liefert, so daß infolge solcher ablaufenden Kettenreaktion das gesamte System
in den energieärmeren Zustand übergehen könnte. An diesem Beispiel wird
ersichtlich, daß die Reaktion mit Sicherheit abläuft, wenn von Anfang an alle
Teilchen von außen mit der kinetischen Energie versorgt würden, die zur Überwindung
des Potentialwalls nötig ist, aber auch, daß sie als abgeschlossenes System
ohne Energiezufuhr mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ablaufen kann. Diese
Wahrscheinlichkeit ist ihrerseits eine Funktion von der Höhe des
Potentialwalls. Die Energiedifferenz zwischen den beiden Potentialmulden spielt
eine Rolle, wenn man die Rückreaktion betrachtet, nämlich, daß das
Reaktionsprodukt Wasser die freigewordene kinetische Energie aufnimmt und sich
zu den Ausgangsstoffen zurück bildet. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist
nochmals viel geringer und von jener Energiedifferenz abhängig. Betrachtet man
das System als abgeschlossenes (also ohne Energie- und Stoffaustausch von außen)
und erweitert den Blickwinkel auf alle möglichen Übergänge unserer
Potentiallandschaft, dann sieht man, daß durch die Höhe der einzelnen
Wahrscheinlichkeiten die Realisierungsmöglichkeiten des Systems in ihrem
zeitlichen Verlauf nicht beliebig sind, sondern als geschichtlicher Prozeß, der
in Richtung und Geschwindigkeit determiniert ist, ablaufen. Vereinfachend kann
man sagen, daß auch das komplexeste System sich mit Sicherheit nach ausreichend
langer Zeit in seinen natürlichsten Zustand schwingen wird.
Es
tut mir leid, daß ich Dich durch dieses trockene Nadelöhr zerren mußte, aber
nun wird es interessant, wenn man das Modell auf eine menschliche Gesellschaft
anwendet.
Beginnen
wir damit am Ziel: Der natürlichste gesellschaftliche Zustand wird erreicht,
indem sich die Kultur an die adäquateste Erscheinung des Wesens annähert. Zum
alles entscheidenden Kriterium wird somit die Antwort auf die Frage nach dem
menschlichen Wesen, also nach der Natur des Menschen.
2.2.3.4.
Das Wesen des Menschen
Die
beiden kurzschlüssigsten Antworten erweisen sich als Vorurteile:
Aggressionstrieb und Egoismus. Denn zu der Aggression, die wir heute zu
beobachten gezwungen sind, die im massenhaften Töten von Artgenossen gipfelt, hätte
die Evolution zwei genetische »Fortschritte« hervorbringen müssen: erstens
die Überwindung der intraspezifischen Tötungshemmung und zweitens ein
entsprechendes Motiv. Solch ein Evolutionserfolg wäre nicht gerade langlebig,
die erste mit den neuen Genen ausgestattete Gruppe hätte nach kurzem Prozeß
sich von der Menschheitsgeschichte wieder verabschiedet.
Wer
im menschlichen Egoismus einen Selbsterhaltungstrieb oder noch viel
absurder — und trotzdem oft zitiert — einen Trieb zur Durchsetzung der
individuellen Gene entdecken will und sich dabei auf Darwin beruft, verkennt
(wahrscheinlich absichtlich) den Kern Darwins Feststellung, nämlich daß
mutagene Formen sich über Generationen hinweg durchsetzen, wenn sie dem Überleben
der Art dienen und nicht dem Individuum. Aggression und Egoismus sind
zwar keine Bestandteile des menschlichen Wesens, wohl aber ist dessen dortige
Suche Rationalisierung an vorderster Front.
Die
biologische Seite des Menschen ließe sich gut fassen, könnte man sie an seinen
Instinkten festmachen. Doch unsere Beobachtung lehrt uns, daß der Mensch
im Gegensatz zum Tier nicht einmal die Instinkte hat, die sein Überleben
sichern könnten. Ist es da sinnvoll, Instinkte zu postulieren, die dafür
absolut bedeutungslos sind und deren Herausbildung vor ca. 20.000 Jahren (denn
der Mensch hat sich seit der Jungsteinzeit genetisch nahezu nicht verändert)
enormes hellseherisches Potential von der Evolution abverlangt hätte, wie die
Liebe zu Bügelfalten, schnellen Autos oder lila Lippenstift? Die
Zwillingsforschung hat ein Faible dafür, aber auch allgemein beobachte ich eine
zunehmende Beliebtheit von Vererbungsmythen. Gerade im Wunsch, wiederkehrende
Verhaltensmerkmale als vererbt anzusehen, stellt sich die aktive
Suggestierbarkeit einer objektiven Erkenntnis in den Weg.
Doch
woher kommt die im Tierreich einmalige Freiheit im Verhalten und fehlende
Instinktdeterminierung beim Menschen? Nach Untersuchungen des Zoologen Adolf
Portmann erlangt der Mensch erst in seinem 12. Monat nach der Geburt einen
physiologischen Entwicklungsstand, der dem der anderen Säugetiere zum Zeitpunkt
ihrer Geburt entspricht. Hätte sich der Mensch auf »echte Säugetierweise«
weiterentwickelt, benötigte er eine Schwangerschaftsdauer von 21 Monaten. Doch
die Evolution ließ ihn einen anderen Weg gehen, den einer zunehmend früher
erfolgten Geburt. Wahrscheinlich sind meine Gedanken nicht frei von Spekulation,
aber bis zur Widerlegung plausibel. In der zweiten Hälfte der Embryonalzeit
wird das Gehirn immer stärker ausdifferenziert und es werden nach einem
genetischen Plan die Instinkte wie bereits erlangtes Wissen neuronal verknüpft.
Wenn beim Urmenschen diese Phase in eine extra-uterine Entwicklung fiel, mußte
diese Verknüpfung mit nunmehr einsetzenden Wahrnehmungen der Sinnesorgane und
dem Lernvermögen konkurrieren. Weil dies sich aufgrund wachsender Gehirnmasse
und umfassender Fürsorge nicht nur als lebensfähig, sondern als überlegen
erwies, vollzog sich ein Prozeß der immer länger werdenden hypothetischen
Schwangerschaftsdauer bei gleichzeitiger Verkürzung der realen mit zunehmender
Favorisierung der Wahrnehmung und des Lernvermögens unter Nutzung der, durch
das Verblassen inzwischen verzichtbar gewordener Instinkte, freiwerdenden
Gehirnkapazität. Allein die Vergrößerung des Lernvermögens und begleitend
der Gehirnmasse kann als Motor dieses iterativen Prozesses nicht ausgereicht
haben. Erst durch die Abfolge der Fähigkeiten: neuartige Form der Beobachtung
mit Kombinationsgabe, Kreativität und daraus folgend Planung und
zielgerichteter Gebrauch von Werkzeugen, Kommunikationsmöglichkeit und im Höhepunkt
gemeinsames Planen und Agieren, findet sich das Potential, einerseits die
Instinkte nachhaltig überflüssig werden zu lassen und andererseits, die Anfänge
eines Bewußtseins zu markieren.
Auf
die unbedingten Reflexe und die hormonelle Steuerung der körperlichen
Entwicklung übte die einsetzende Wahrnehmung und deren Verarbeitung keine
Konkurrenz aus, so daß diese wie bei den anderen Säugetieren erhalten blieben.
Stellt
sich nun die Frage nach den Trieben, und wenn man sie gründlich stellt, ob es
sie überhaupt als organisches Korrelat gibt. Muß man z.B. den Hunger zum
Nahrungstrieb stilisieren, der seine Realisierung den Instinkten
(Nahrungserkennung, Jagd, Vorratslagerung usw.) verdankt, oder setzen nicht
vielmehr die Instinkte ihre Tätigkeit automatisch ein, sobald die äußeren
(Jagdopfer) und inneren Signale (biochemische Reizmeldung des leeren Magens) in
Erscheinung treten? Wenn für einen Trieb aber nicht die Forderung erhoben wird,
ihn als biologisches Material (z.B. im Erbgut) nachzuweisen, sondern es
ausreicht, ihn aus absolut unabwendbaren Notwendigkeiten zu deduzieren, dann müssen
mit gleichem Recht alle Zwangsläufigkeiten, die aus der neuen Qualität des
Denkens resultieren, ebenso als Triebe benannt werden. Ich denke, daß der stärkste
Entwicklungsschub, der schließlich den Instinktverlust besiegelt hat, im
gemeinsamen Planen liegt. Inwieweit das eine entsprechende
a-priori-Erwartungshaltung in der menschlichen Psyche, die ebenfalls im Begriff
war, zu entstehen, festgelegt hat, ist schwer zu sagen, aber psychoanalytische
Erkenntnisse deuten darauf hin. Letztlich kann hinter jeder aggressiven,
sadistischen, masochistischen usw. Tat der fehlgeleitete Trieb gesehen
werden, Nähe und Zukunft aufzubauen. Was nicht mit einer Verkehrsregelung
verwechselt werden darf, die einen Fahrzeugstrom einfach umleitet, so daß er
dann über einen anderen Weg ans Ziel gelangt. Denn die Obsession, Grausamkeit
oder Hingabe mit der manche Leidenschaften ausgeübt werden, beweisen nicht die
Stärke des ursprünglichen Triebes, sondern die Gründlichkeit dessen Nichterfüllung.
Für einen Trieb aber, der im weitesten Sinne aus dem Denken resultiert, im Bewußtsein
entsteht und nach immaterieller Befriedigung trachtet, stellt sich die Frage,
wieso es möglich ist, daß dem Individuum die Erfüllung oft versagt bleibt.
Im
Laufe der ersten Lebensjahre eines Menschen entfaltet sich nach dem logischen
auch das abstrakte Denken, welches irgendwann das Niveau erreicht, daß das Kind
alles von sich abstrahieren kann. Es gibt dann ein Ich, und der Rest ist die
Welt, von der es nunmehr getrennt ist. Der frühkindliche Narzißmus ist eine
Schutzfunktion, damit diese Erkenntnis nicht zu brachial erfolgt, denn sie ist
verbunden mit der einschleichenden Wahrnehmung des Kindes, daß ihm eine
potente, komplexe Welt fremd gegenübersteht, die es nicht versteht, und die ihm
im Vergleich zu sich selbst die eigene Impotenz und Einsamkeit zeigt. Unter
gesunden Rahmenbedingungen verblaßt der Narzißmus, indem das Kind die Fähigkeiten
erlernt, diese Trennung zu überwinden. Ein Kind kann bereits mit zwei Jahren
die ersten Zusammenhänge in Technik und Natur verstehen und Neugier auf mehr
entwickeln, und mit drei Jahren setzt die Fähigkeit ein, Verantwortung zu übernehmen.
So begreift das Kind, daß es sich auf eine produktive Weise mit der Welt
verbinden kann und gewinnt ein diesbezügliches Interesse. Nun hängt die
weitere Entwicklung davon ab, wie lustvoll das Kind auf diesem Weg
voranschreitet, oder ob es gebremst wird und sich an seinen Narzißmus klammert
bis er zum Charakter wird, oder ob der Narzißmus gewaltsam zerstört wird, und
das Kind Muster der Eltern übernimmt, auf regressive Weise Verbindung zur Welt
herzustellen und sich der Verantwortung zu entledigen. Hier zeigt sich, daß so
früh schon zwei entgegengesetzte Entwicklungsrichtungen eingeschlagen werden können,
zwischen denen der Mensch seinen Weg finden muß, doch nicht in einem beliebigen
Zickzack-Kurs, denn jeder Schritt wird zur Ursache dafür, den nächsten Schritt
in dieselbe Richtung zu setzen.
Der
progressive Weg, der aus dem Narzißmus kommend zur Selbsterkenntnis geführt
hat, verläuft unter weiterer Individuation zum Selbst-Bewußtsein und gipfelt
in der Erlangung eines eigenen Gewissens. Parallel dazu muß das Gegenstück
stattfinden: die Überwindung der auf die eigene Person beschränkten
Interessen, die soziale Anteilnahme. Beide, also Individualität und
Gemeinschaftssinn, werden gern als Gegenteile bezeichnet, zwischen denen den
Lesern diverser Ratgeber anempfohlen wird, einen Kompromiß auszuhandeln. (Das
entspringt derselben Ideologie, die auch Egoismus mit Selbstbewußtsein
gleichsetzt, Vermassung mit sozialer Anteilnahme verwechselt und nicht zu
erkennen vermag, was sich hinter dem Individualismus verbirgt: nämlich die
Vermassung.) Um es noch einmal zu betonen: nur durch die Ausprägung von
Individualität, Souveränität und Gewissen wird die Voraussetzung
geschaffen, Verantwortung zu übernehmen und ihr gerecht zu werden, um in diesem
Akt die Trennung von der Welt zu überwinden. Mit der Erlangung der Gewißheit eins
zu sein mit Natur und Menschheit und deren Zukunft haben Impotenz und
Einsamkeit jede Grundlage verloren; ergibt sich das eigentliche Motiv für
Verantwortung. Genau genommen zeigen sich diese angeblichen Gegenteile als zwei
Seiten eines Prozesses der Befriedigung des elementarsten menschlichen Bedürfnisses,
das wir durchaus Trieb nennen dürfen.
Dieser
Prozeß verläuft nicht reibungslos. Selbst wenn am Anfang die Weichen günstig
gestellt sind, und das Individuum, mit Wissen und Hingabe ausgestattet, fähig
ist, Verantwortung zu übernehmen, erfährt es nicht selten, daß solches
Engagement unerwünscht ist, ja soweit als störend empfunden wird, daß der
Staat seinen gesetzlichen Rahmen so einrichtet, daß das Engagement sich außerhalb
wiederfindet. Aber das Kriterium für die Richtigkeit können weder sittliche
noch juristische Kodizes sein. Einzig die Naturgesetze und die sich daraus
ableitenden Konsequenzen für eine Gesellschaft sind verbindlich. Sie sind
Hardware, unabänderlich, alle Software, die darauf gespult wird: Spielregeln,
zu Gesetzen zementierte Gewohnheiten, können auch umprogrammiert werden. Wer
dazwischen unterscheiden kann und dafür etwas riskiert, hat eine subversive
Demut erlangt.
Der
regressive Weg, der versucht, die Selbsterkenntnis rückgängig zu
machen, um Verantwortung und Einsamkeit und schließlich sich selbst in
symbiotischen Verhältnissen zu verlieren, führt daher zu einem Defizit bei der
Befriedigung des eben postulierten Triebes. Dadurch, daß die Linderung des
Problems in der Delegation der Verantwortung und der Verdrängung des Problems
durch Konsum und Vergnügen gesucht wird, verstärkt sich das Defizit und das
Festklammern an der falschen Linderung muß zur Sucht werden.
Soviel
dazu in aller Knappheit, weil es hier Anliegen war, das menschliche Wesen zu
beleuchten und nicht dessen kulturelle Inadäquatheiten.
Jetzt,
vielleicht, kann man sich an die Frage herantasten, wie eine Gesellschaft
organisiert sein muß, die dem Wesen des Menschen entspricht und sich deswegen
an einen Zustand geringster systemstabilisierender Energie annähert. (Das
absolute Minimum liegt im Unendlichen nach unserem Modell.)
2.2.3.5.
Die adäquate Erscheinung
Ein
wichtiger Faktor dafür sind gesund aufwachsende Kinder. Die Erziehung zu einer
wissenschaftlichen Beobachtungsgabe darf nicht nur Bestandteil eines
Unterhaltungsprogramms für das Kind sein, sondern muß zur einzigen und
selbstverständlichen Quelle für eine Weltanschauung werden. Das Kind muß
begreifen können:
-
daß es Zusammenhänge zwischen Phänomenen gibt
-
worin deren Logik besteht
-
wie sich die Logik verallgemeinern läßt
-
wie sich aus abstrakten Erkenntnissen Konkretes deduzieren läßt
-
welche Bedeutung dabei Stringenz hat
-
wie aus kausalen Ketten Kreisläufe werden
-
wie sich aus entgegenläufigen Prozessen Gleichgewichte aufbauen
-
wie sich aus gleichgerichteten Prozessen (Wirkung = Ursache) Rückkopplungskreise
aufbauen
-
daß es nur durch Unbestechlichkeit zur Erkenntnis kommt
-
daß es fremde Behauptungen überprüfen kann
-
daß es zur Äußerung von Kritik nicht nur berechtigt ist, sondern eine
Pflicht hat
-
daß es ihm nützt, die Gedanken anderer zu verstehen
-
daß die eigentliche Befriedigung darin besteht, gemeinsame Ziele zu
verwirklichen.
Diese
Liste wird keine Überraschung auslösen, umfaßt sie doch etwa die
Zielstellung, die sich eine humanistische Erziehung seit Jahrhunderten gegeben
hat. Das macht sie weder falsch noch alt. Verwirklicht werden konnte sie nie,
denn es war ein Irrtum des Humanismus zu glauben, daß das Bewußtsein der
Erzieher den Erfolg garantiert. Es muß aber das praktische Umfeld des
Kindes sein, welches die Möglichkeiten bietet und (da wird der freiheitliche
Demokrat zusammenzucken und fragen: wer hat das Recht dazu?) das Störende
ausschließt. (Doch er sollte sich selber fragen, was am Geistigen so anders ist
als am Körperlichen, und ob er nicht auch alle Hebel in Bewegung setzen
würde, damit seine Kinder nicht in einer Chloratmosphäre aufwachsen, oder was
er im Seuchenfall von Desinfektion hält.) Das praktische Umfeld kann
selbstverständlich keine Puppenstube sein, die im Widerspruch zur restlichen
Gesellschaft steht, denn die Erzieher sind Teil der restlichen
Gesellschaft und werden immer in deren Sinn erziehen, egal was sie verkünden.
Das
Kind muß Teilnehmer an konstruktiven Prozessen sein, um ein Gefühl für
zeitliche Dimensionen und Zusammenhänge (Samen → Pflanze→ Frucht → Samen; Wasserkreislauf; Kompostierung ... ) und für planerisches Eingreifen
(Bestandsaufnahme → Plan → Realisierung → Erfolgskontrolle) zu erlangen. Es braucht eine wahrheitsgemäße Erklärung für
den Sinn der beruflichen und freizeitlichen Tätigkeiten seiner Eltern. Das Kind
muß in einem Umfeld aufwachsen, in dem Naturgesetzmäßigkeiten auch ohne meßtechnische
Apparatur erkennbar sind. Das favorisiert die ländliche Gegend oder das Dorf — natürlich gelten die Gesetze überall, aber in der funkferngesteuerten Großstadtwelt
mit ihren überdachten Vergnügungsparks begreift ein Kind nicht Gesetze,
sondern bestenfalls Gebrauchsanweisungen, und genau das ist der wesentliche
Unterschied. Innerhalb der herrschenden Rahmenbedingungen darf es keine Instanz
geben, von der eine Suggestion ausgeht, die in die Dynamik des Kindes eingreift,
d.h. originäre Bedürfnisse beschneidet und fremde aufzwingt, oder die das Kind
hindert, Kritik bzw. seine Auffassung von der Wahrheit zu äußern. Es reicht
aber nicht, und jetzt noch einmal betont: das Kind davor zu schützen, sondern
die Gesellschaft darf keine Institutionen hervorbringen, denen derartige
Interessen wesenseigen sind. Die gleiche Forderung besteht darin, daß Kinder
nicht in Kontakt mit hierarchischen Gefügen, Macht oder Konkurrenzkampf kommen.
Nicht nur weil es das Verschmelzungsbestreben der Kinder frustriert, sondern
weil unter solchen Bedingungen statt der Liebe zur Erkenntnis nur Angeberei
stimuliert wird, also der erste Schritt für die Entwicklung zur enthöhlten
Person. Von Spielzeug und irgendwelchen Unterhaltungsartikeln war bis jetzt noch
keine Rede und ich glaube, die Befreiung davon ist unabdingbar, auch wenn es den
Erziehern mehr Zeit und Geduld abverlangt, stattdessen den direkten Kontakt
zwischen Welt und Kind herzustellen.
Diese
Art der Erziehung ist nicht nur bedeutend, weil sie das Wohl der Kinder sichert,
sondern weil sie die Grundlage dafür liefert, daß die aus ihr hervorgegangenen
Erwachsenen die geistigen und charakterlichen Fähigkeiten besitzen, die für
das Zusammenleben in der adäquaten Gesellschaft notwendig sind.
Auch
für den Erwachsenen muß ein Milieu herrschen, das von Liebe und Kritik geprägt
ist. Dazu muß das gesellschaftliche Sein so beschaffen sein, daß der Mensch
anderen Menschen immer nur als eventueller Kooperationspartner, niemals aber als
Konkurrent, Gegner oder Feind gegenübertreten kann. Er muß die Gewißheit
haben, auf dieser Erde gewünscht zu sein, ohne daß er eine Leistung erbringen
muß, die seine prinzipielle Daseinsberechtigung unter Beweis stellt. Damit der
Mensch das Menschliche seines Wesens voll entfalten kann, müssen sämtliche
Angelegenheiten, die die Produktion und Verteilung der Güter betreffen, einer
ungehinderten Planbarkeit zugänglich sein. Trial and Error, das Prinzip der
Natur ist im Paradigma des Menschlichen unwirtschaftlich und Verschwendung. Der
Mensch nähert sich seiner Natur, indem sich seine Ökonomie von der Natur
entfernt. Dabei müssen, im Hinblick auf den Weg dahin, zwei Probleme gelöst
werden:
Erstens
die Beseitigung des Konkurrenzkampfes, der einer gesunden Verschmelzung des
Individuums mit der Welt im Wege steht und die Ursache für seelische
Deformation und Selbstausbeutung ist; und der wiederum seine Ursache findet in
der aus Planlosigkeit und dem Diktat zur Effizienz (dessen Ursache er selbst
ist) resultierenden Überproduktion.
Zweitens
der volle Planungszugriff auf alle wesentlichen gesellschaftlichen Instrumente,
so daß alle Entscheidungen gemäß ihrer Richtigkeit und nicht gemäß
angeeigneter Rechte (was auch Eigentumsrechte einschließt) gefällt werden können.
Beide
Aspekte erzwingen in erster Instanz die gesellschaftliche Aneignung der
Produktionsmittel. Voraussetzung dafür, und in der adäquaten Gesellschaft
tritt diese Voraussetzung ein, ist, daß der Mensch von keinen irrationalen
Motiven beherrscht wird. Mit der Beseitigung der objektiven Ursachen für
irrationale Motivationen und damit deren Wegfall inklusive der daraus folgenden
irrationalen Handlungen erfolgt die Aufhebung des Begriffes Arbeit und es
erlischt der Sinn für ein Privateigentum: denn die irrationalen Motivationen
waren die Ursache für das Entstehen von Privateigentum auf unterschiedliche
Weise: um sich Grundlage zu verschaffen für irrationale Handlungen (Machtausübung)
oder, um Werte vor irrational motiviertem Zugriff anderer zu schützen.
Wenn
sämtliche Tätigkeit rational motiviert ist oder den menschlichen Bedürfnissen
entspricht, gibt es keine Tätigkeit mehr, die nicht gesellschaftlich notwendig
wäre, weil sie entweder direkt im Auftrag der Gesellschaft erfolgt, oder weil
sie für den Einzelnen und damit gleichzeitig für die Gesellschaft notwendig
ist, so wie der Einzelne von der Gesellschaft gebraucht wird. Dadurch wandelt
sich die ökonomische Bedeutung des Begriffes Arbeit dahingehend, daß nicht
mehr das als Arbeit gewertet wird, was gegen Lohn verrichtet wird, den jemand
zahlen kann, weil er mit der Aneignung der Arbeitsleistung Umsatz macht, sondern
die Grenzen zwischen Arbeit, Regenerierung der Arbeitskraft und
Selbstverwirklichung verschwinden. Mit der Beseitigung der Grenze zwischen
Arbeit und Freizeit entfällt auch die Unterscheidung zwischen Produktionsmittel
und Erholungsmittel, was jedes Privateigentum zum Produktionsmittel macht und
bei vollzogener Aneignung aller Güter durch alle Einzelnen jedes
Produktionsmittel zum Privateigentum. Das Bestimmen von Wertäquivalenten
reduziert sich auf den rechnerischen Akt zur Optimierung der Planung. Das Geld
verliert seine Funktion und damit sind in zweiter Instanz alle Eigentumsverhältnisse
aufgehoben. Die Menge und Qualität des Eigentums, das der Einzelne sich
aneignet, was damit zu seinem Verantwortungsbereich wird, muß durch eine
funktionsfähige Gleichgewichtseinstellung geregelt sein. Vorausgesetzt, daß
die zu tragende Verantwortung innerhalb der Gesellschaft nicht größer oder
kleiner ist, als die Summe dessen, was deren Mitglieder zu tragen fähig und bedürftig
sind, ergibt sich die Gleichgewichtseinstellung durch die Ambivalenz der
Verantwortung. Diesem Phänomen muß später noch ein Extra-Kapitel gewidmet
werden, hier nur soviel: Jeder Mensch, auch der in einer adäquaten Gesellschaft
lebende, steht den Herausforderungen, die das Leben an ihn heranträgt,
ambivalent gegenüber. Die Übernahme von Verantwortung kann zur belastenden
Verpflichtung werden oder aber zum Lustgewinn, wenn der Mensch sich auf diese
Weise produktiv mit der Welt vereint.
In
einer entfremdeten Gesellschaft führt die Ambivalenz der Verantwortung in dem
Maße zum Konflikt, wie die Person den regressiven Weg beschreitet, wenn sie
fortwährend versucht, sich der Verantwortung zu entledigen und die damit nicht
erreichte Vereinigung mit der Welt auf symbiotische Weise unter Verlust ihrer
Persönlichkeit herstellt.
Die
adäquate Gesellschaft liefert die Grundlage dafür, daß der Mensch den
progressiven Weg einschlägt, wodurch im Gegensatz zum anderen Fall die
Ambivalenz der Verantwortung zu einer Gleichgewichtseinstellung führt, die auch
für die Aneignung der Güter regelnde Wirkung hat.
Eignet
sich der Mensch mehr Güter an, als er verantworten kann, lädt er sich
damit nur mehr Last und Verpflichtungen auf, ohne daß ihm das die entsprechende
Befriedigung und Verschmelzung brächte. Die negative Gefühlsbilanz würde die
Zuvielaneignung zurückregulieren. Zuweniganeignung führt zu einem
Verschmelzungsdefizit. Wesentliche Voraussetzung für eine funktionsfähige
Gleichgewichtseinstellung ist, daß der Mensch ein klares Selbstbewußtsein
erlangt, daß er in der Lage ist, seine Fähigkeiten, Bedürfnisse und Möglichkeiten
realistisch und illusionsfrei abzuschätzen.
Weil
der ausschlaggebende Teil des menschlichen Wesens gerade mit dem Instinktverlust
und der damit begründeten Handlungsfreiheit verbunden ist, läßt sich die dem
Wesen adäquate Erscheinung bei weitem nicht so genau formulieren, wie es bei
einem Tier möglich ist. Tiere sind durch ihre Instinkte an Klima, Lebensraum,
Nahrung o.a. Beziehungen meist spezifisch gebunden, so daß sich die, dem Wesen
einer bestimmten Tierart adäquate, Erscheinung präziser umfassen läßt. (Auch
hier ist uns eine Entfremdung durch menschliches Zutun nicht unbekannt.)
Der
Mensch ist weitestgehend frei von solchen festgelegten Umweltfaktoren und hat
durch seine Kreativität ein viel höheres Vermögen, sich den gegebenen
Bedingungen anzupassen. Diese Fähigkeit zur Anpassung kann sehr
unterschiedliche Folgen haben und so wird das, was eigentlich des Menschen Stärke
ist, auch oft zu seiner Schwäche.
Trotz
des Anpassungsvermögens und der Freiheit im menschlichen Charakter ist die adäquate
Gesellschaft weit davon entfernt, eine Beliebigkeit zu sein. Wie gezeigt wurde,
gibt es unbedingte Erwartungen, die der Mensch, seinem Wesen gemäß, an seine
Umwelt stellt, wenn auch auf gänzlich anderen Ebenen als das Tier.
Eigentlich
müßte es die dringendste Aufgabe heutiger Wissenschaft sein, das
menschliche Wesen und seine adäquate Erscheinung genauer zu fixieren. Doch
scheint dafür kein Auftraggeber zu existieren. Beschämend ist der Bogen, den
die Forschung darum macht, um stattdessen den kleinsten Elementarteilchen oder
dem fernsten Sternennebel hinterher zu jagen. Noch weitaus beschämender sind
die Markt- und Meinungsforschungsinstitute, die tagtäglich ihre Umfragen machen
und nicht annähernd herausfinden, was der Mensch tatsächlich braucht. Und wer
die Liste des Beschämenden fortsetzen will, muß sich nur vergegenwärtigen,
wie heruntergekommen die visionäre Kraft der Künstler, insbesondere der
Filmschaffenden ist: unter den tausend Filmen, die uns die Zukunft der Welt verkünden,
d.h. ihr infernalisches Ende oder die Abwendung der Apokalypse in letzter
Sekunde durch zwei edle Ritter, ist vermutlich kaum einer, der sich an das Thema
getraut, aus den noch unvollkommenen wissenschaftlichen Theorien über eine
menschenwürdige Gesellschaft, eine lebensnahe Geschichte zu entwickeln, die den
Zuschauer animieren könnte, sich für dieses Ziel zu engagieren. Fragt sich,
welche Angst die größte ist: die vor der Vision selbst; die davor, daß sie
kitschig gerät oder die, daß sie — was, egal wie stark sie ist, mit
Sicherheit eintritt — des Kitsches bezichtigt werden würde. →
Pathos
oder Apathie
Nun,
Visionen dieser Art sind nicht gerade das Markenzeichen unserer Epoche. Man hält
es da lieber mit technischen Heilsverkündungen und für das »Menschliche«
sorgen Familienserien.
Dies
ist politisch so gewollt in einem System, das es geschafft hat, die herrschende
Ideologie soweit beim Einzelnen zu internalisieren, daß selbst die
Unterdrückten (genau genommen sind auch die Unterdrücker Unterdrückte) am
Status quo festhalten. Die Frage ist, kann das die Annäherung an die adäquate
Gesellschaft verhindern? Nein. Wie schon am thermodynamischen Modell
demonstriert, nähert sich das System Menschheit an die Funktion der adäquaten
Erscheinung des menschlichen Wesens mit völliger Gewißheit, es ist nur eine
Frage der Zeit. Als ich einst einem sehr einflußreichen Politiker die ganze
Theorie bis zu diesem Punkt erläutert hatte, unterbrach er mich: »Tom, deine
Träume sind herrlich, aber erst einmal müssen wir unser Wirtschaftswachstum
steigern, damit wir solche Träume auch verwirklichen können.«
So
sollte es doch lohnend sein, einen Blick dorthin zu werfen, wo die erzeugten
Werte unserer ständig wachsenden Wirtschaft verbraucht werden. Abstrakt
gesehen, verteilt sich dieser Verbrauch auf zwei Konten: erstens Befriedigung
der Bedürfnisse und zweitens systemstabilisierende Energie. Alsdann müssen wir
einen Betrachtungsrahmen wählen: nehmen wir die heutige Kultur der westlichen
Industrienationen. Während mit materiellen Gütern der entsprechende
Bedarf bis auf Ausnahmen befriedigt werden kann, scheint
mir unser System dem Anspruch, den der Mensch gemäß seines Wesens an
sein Lebensumfeld stellen müßte, nicht gerecht zu werden. Der Fakt, daß
immaterielle Bedürfnisse kaum befriedigt werden können (wie die
Entfaltung der individuellen Persönlichkeit unter Anpassungsdruck und das
Verlangen nach Verschmelzung unter Konkurrenzkampfbedingungen), soll hier nur
festgehalten werden, spielt aber keine direkte Rolle, wenn es um den Verbleib
der produzierten Werte geht.
Bereits
jetzt dürfte klar werden, daß es der allerkleinste Anteil aller erzeugten Güter
ist, den der Mensch in irgendeiner Form für sein Leben verwerten kann.
Daß eigentlich fast alles das System stabilisierende Arbeit ist, und daß
deswegen noch weitere Steigerung der Produktivität das Unglücksverhältnis nur
vergrößern würde, soll im folgenden gezeigt werden. Das betrachtete System
weist ebenso wie seine Vorgänger dem Individuum einen Entwicklungsweg in
regressive Richtung, dessen negative Folgen wie Minderwertigkeitskomplex und
Einsamkeit der Betroffene z.B. durch die Ausübung von Macht zu kompensieren
versucht. Diesem Bestreben ist der Wunsch nach einem Machtinstrument immanent,
das immer verfügbar, also Eigentum sein muß. Einmal in Gang gesetzt, vollzieht
sich ein Prozeß der Eigentumsaneignung der verwirrend komplex motiviert
ist:
1.
Das irrationale Motiv, Impotenz und Einsamkeit durch Macht zu
kompensieren, wird verdrängt, aber der Machtwunsch wird bewußt und unverhüllt,
also rational, durch Aneignung befriedigt.
2.
Dasselbe irrationale Motiv wird verdrängt, darüber hinaus auch der
Machtwunsch, den sich der Einzelne nicht eingestehen will. Die Aneignung wird
rationalisiert als Schutz der Güter vor den negativen Folgen des Zugriffs
anderer.
3.
Die Aneignung erfolgt tatsächlich rational, um Verantwortung zu übernehmen.
Wer
nur sieht, wie zentral diese Problematik im menschlichen Dasein verankert war
und ist, die innere Dynamik aber ignoriert, muß zu dem Schluß kommen, das
Motiv sei angeboren. Da dieser größtenteils irrational motivierte Prozeß
nicht die Lösung für die eigentlichen Defizite beinhaltet und in seiner Folge
alle Mitglieder des Systems zur Teilnahme zwingt, führt er dazu, daß
irgendwann die ganze Erde privat angeeignet wird. Ob diese Aneignung legal oder
illegal ist, ist nur eine (eigentlich bedeutungslose) Frage der zum jeweiligen
Zeitpunkt herrschenden Gesetze. Und dieser Prozeß weist einen wesentlichen
Unterschied zur adäquaten Gesellschaft auf: Die Verantwortung ist nicht die
Ursache, sondern nur die Folge der Aneignung. Aufgrund dessen und weil die Möglichkeiten
des koordinierten gesellschaftlichen Planens kaum gegeben sind, kann die
Gesellschaft der zu tragenden Verantwortung nicht gerecht werden. Um diese
Verantwortungslosigkeit zu verschleiern und quasi einen »Verantwortlichen«
zu finden, und weil es in diesem Zustand auch nicht mehr anders zu realisieren
ist, wird der gesamten Ökonomie des Systems ein Verfahren nach dem Vorbild der
Natur (siehe 2.2.2.) zugewiesen und diesem »regulierende und den Fortschritt
antreibende Bedeutung« unterstellt. Das Privateigentum, so absurd dessen
Existenz aus menschlicher Sicht erscheint, wird in der hochentwickelten
entfremdeten Gesellschaft zur wichtigsten die Spielregeln des Systems
kreierenden Instanz, die da sind: wie kann das Privateigentum vor dem Zugriff
anderer geschützt, vermehrt oder einfach nur ausgetauscht werden. Da sich das
Privateigentum auch auf Produktionsmittel erstreckt und durch diese eine
Eigentumsvermehrung nicht nur möglich ist, sondern auch erzwungen wird, erhält
die irrationale Forderung nach Vermehrung eine zusätzliche Dynamik. D.h. diese
treibenden Kräfte lassen den Besitzer unter Ausnutzung seiner Kreativität nach
immer neuen Wegen für eine Vermehrung seines Eigentums, nunmehr Kapitals
suchen. Mancher neue Trampelpfad gefährdet die Stabilität des Systems, wenn er
nicht wirkungsvoll durch die Erlassung von Gesetzen verbunden mit Strafandrohung
verbaut wird. Dem Motiv der Aneignung wird also mit der Überkompensierung
durch sein Gegenteil, der Enteignung, gedroht. Obwohl diese Gesetze präventiv
sein sollen, wirken sie teilweise nur hinterherhinkend, weil sie statisch sind,
im Gegensatz zum dynamischen Motiv. Es ist plausibel, daß die Bestrebungen nach
Macht, Einflußnahme, Kapitalvermehrung, Eigentumsverteidigung u.ä., wenn das
System stabil bleiben soll, eine Einteilung in legal oder kriminell erfordern
und daß Hoheitsgebiete durch Grenzen getrennt werden müssen, was sich nicht
nur auf die materielle Ebene bezieht, sondern auch auf die zu Kapital gewordene
geistige: Wissen, Informationen, Beziehungen ...
Darüber
hinaus bedarf es eines universalen Äquivalentes zur Regelung des Austausches.
Zwangsläufig wird dieses Äquivalent irgendwann selbst zu Kapital. Die einmal
entfesselten Triebkräfte fordern einen ständig wachsenden Apparat des
Regulierens, der immer feiner, differenzierter, komplexer und damit
umfangreicher wird, solange daß Diktat der grundsätzlichen Unveränderbarkeit
des Systems gilt. Dabei könnte gerade jetzt in den hochentwickelten Ländern
durch die extrem modernisierten Kommunikationsmittel, den
wissenschaftlich-technischen Stand der Produktion und deren technische
Koordinationsmöglichkeiten eine potentielle Energie frei werden, die zur Überwindung
des Potentialwalls ausreicht, um das System in einen potentialärmeren Zustand
zu transformieren. Aber genau diese freiwerdende Energie läßt man sofort, noch
bevor sie revolutionär werden könnte, eine Arbeit verrichten, die neue
potentielle Energie ins System zurückführt. Diese Systemstabilisierungsarbeit
erschafft einen Umfang, der die erstbeste Vermutung bei weitem übersteigt und
der in der nachfolgenden Aufzählung nur angedeutet werden kann.
Mit
dem Austauschmittel Geld sind Banken, Steuern, Steuerberatung, Aktienhandel, Börsen,
Preiskalkulationen, Löhne, Renten, Fahrscheinautomaten usw. verbunden.
Damit
die Abgrenzung hoheitlicher physischer und geistiger Territorien gewährleistet
ist, wird für die Grenzerrichtung, -erfassung und -verwaltung zwischen Staaten,
Firmen und Privatgrundstücken gesorgt. Schließ- und Überwachungssysteme tun
ihren Dienst. Zunehmende Bedeutung als Vermögen gewinnt die Information. Damit
verbindet sich der notwendige Schutz von wissenschaftlichen und politischen
Geheimnissen und wiederum deren Aufklärung durch Spionage. Doch auch
Patentschutz ist nur unzureichend wirksam, das Geheimnis vieler Produkte wird
eher durch mangelhafte oder verschleiernde Inhaltsangaben gewahrt. Der
Verbraucher kann nicht mehr mitdenken und ist an die Gebrauchsanweisung
gekettet.
Zur
Herstellung von Disziplin und Ordnung bedarf es der Indoktrination von Moral und
der Aufstellung und Durchsetzung von Gesetzten (Juristen, Polizei, Militär,
Strafanstalten). Ein wirksames — oft unterschätztes — Instrument der
Unterdrückung ist das verinnerlichte Schuldgefühl. Verharmlosend wird der
Schuld die Funktion, Sünden zu verhindern, zugeschrieben, wohingegen
Untersuchungen zeigen, daß die Schuld oft eine Ursache der Sünde ist.
Das
System stabilisiert sich auch durch die gegenseitige Penetrierung der einzelnen
Einflußnahmen. Aufwendungen zur Materialisierung von Macht: Administration,
Lobbyarbeit und Prestige fallen darunter.
Die
mit dem Entgrenzungsprozeß in der Renaissance einhergehende Flexibilisierung
des gesamten Lebens (Geld, Tagelöhner, Taschenuhr, Buchdruck, Seefahrt,
Astronomie) begann die starren Spielregeln der nackten Gewalt in Frage zu
stellen. Seitdem gewann die geistige Tätigkeit gegenüber der körperlichen
zunehmend an Bedeutung und der Besitz von Informationen wurde dem von
materiellen Gütern gleich wichtig. Im Zuge dieser Vergeistigung übernahm ein
neuer Kader im Dienste der Repression die Aufgabe, ferngesteuert die Fluten der
aufbrechenden Dämme zu kanalisieren: die Ideologie. Sie berührt stark unsere
Fragen nach Suggestierbarkeit und Weigerung und soll deswegen
etwas ausführlicher an fünf Beispielen unserer Epoche
dargestellt werden. (Eine Kritik der spätkapitalistischen Ideologie wäre
interessant, aber wie schon unter dem Punkt »Idealismus« ausgedrückt,
sollte nicht die Kritik das Ziel definieren, sondern das Ziel die Kritik und
deswegen besteht unsere vorläufige Aufgabe in der Konkretisierung der nächsten
Etappe des gesellschaftlichen Ziels, ihrer Träger und des Weges dahin.)
1987/88
hatte ich das Modell der Potentiallandschaft eines Gesellschaftssystems
formuliert und im Freundeskreis diskutiert, und es lag nahe, daß wir
versuchten, beide deutsche Staaten darin wiederzufinden. Den Kapitalismus
Westdeutschlands sah ich in einem tiefen lokalen Minimum, umgeben von einem
hohen Potentialwall. Als Zielvorstellung des Sozialismus galt der Kommunismus in
seiner Eigenschaft als Weg in Bereiche tiefster potentieller Energie, um sich
der adäquaten Erscheinung des
menschlichen Wesens zu nähern. Mit der Schaffung des sozialistischen Seins
wurden natürlich nicht der Mensch und sein Bewußtseins ausgetauscht. Bürgerliche
Moral, Gier und Ängste überlebten den Paradigmenwechsel und standen dem neuen
Sein feindlich gegenüber. Hätte dieses seine höhere Attraktivität in Bezug
auf die Befriedigung der echten Bedürfnisse unter Beweis stellen können, wäre
das — und nur das — die Grundlage für einen Bewußtseinswandel gewesen.
Durch diese intermediäre Künstlichkeit vermutete ich das sozialistische System
in einer Vertiefung auf dem Rücken des dazwischen liegenden Potentialwalls in
einem eher metastabilen Gleichgewicht von geringer Lebensdauer mit der Option für
eine Entwicklung in beide Richtungen. Immerhin war das System kein
abgeschlossenes. Die massive Einflußnahme von außen zielte auf die Rückreaktion.
Weil
mir im Gegensatz dazu der Kapitalismus relativ stabil erschien, hatte ich den
Schluß gezogen, daß er kaum einer Ideologie bedarf. Das war ein Fehlurteil,
das auch von der durch die Staatsgrenze gefilterten Wahrnehmung profitierte.
Nach deren Öffnung zeigte mir die Praxis, daß der als Pluralismus bezeichneten
Verstörung alleinigst nicht getraut wurde, und daß ein umfangreicher
ideologischer Apparat mit hysterischen Strippenziehern jenseits des Atlantiks
(z.B. Kongreß für kulturelle Freiheit) auf Touren gebracht wurde. Sie zeigte
mir auch den Grund: mittlerweile waren — im Gegensatz zu einem Jahrhundert
zuvor — das technische und wissenschaftliche Potential und die Kommunikationsmöglichkeiten
soweit gereift, daß die realistische Möglichkeit einer ersten kommunistischen
Variante in greifbare Nähe gerückt war. Da von dieser Seite die Hauptgefahr
einer Veränderung des Systems lauerte, mußte nicht nur ein solches Ziel
vernebelt, sondern effektiv diskreditiert werden. Dazu fünf Beispiele:
2.2.3.6.5.1.
Die Vertauschung der Begriffe Kommunismus-Sozialismus
Man
kann davon ausgehen, daß die Bewegung, die eine Sache über Jahrhunderte
hinweg entwickelt und für deren Aufbau kämpft, notwendigerweise auch diejenige
ist, die die Sache definiert und nominiert. Demgemäß war der Sozialismus eine
Übergangsphase auf dem Weg zum Kommunismus. Über den letztgenannten sprachen
in meiner Kindheit die Lehrer mit solcher verklärten Ehrfurcht, daß ich ihn
als Synonym für Paradies verstand. Selbst wenn meine kindliche Erinnerung
unkorrekt ist, steht fest, daß es nicht dem eingebildetsten Parteibonzen
eingefallen wäre, den Zustand, in dem der Ostblock sein Dasein fristete, als
Kommunismus zu bezeichnen. Ganz im Gegenteil: Selbst der Sozialismus, und damit
sein Anspruch, wurde bescheiden und defensiv auf den real existierenden
reduziert. Die Begriffe Kommunismus und Sozialismus hatten eine unverwechselbare
Distanz wie Himmel und Erde. Gerade deswegen ist es bemerkenswert, wenn von der
Gegenbewegung beide Begriffe konsequent verwechselt werden. Es wäre ein
an Blindheit heranreichendes Wohlwollen, dies als puren Zufall, als
Schlampigkeit des Westens, begründet im plausiblen Desinteresse an diesem
Thema, abzutun. Ich habe zwei Lexika auf sämtliche Verwendungen des Wortes
Kommunismus geprüft: keine Ausnahme. Auch im Sprachgebrauch der Bevölkerung im
Osten Deutschlands zeichnet sich der Suggestionserfolg mittlerweile voll ab.
Kommunismus wird nun gleichgesetzt mit den im Vorfeld beschmutzten Worten
Bolschewismus und Stalinismus, als Warnung: wenn der Mensch das Schicksal der
gesellschaftlichen Entwicklung selbst in die Hand nimmt, führt der Weg
unweigerlich in eine Diktatur der Planwirtschaft, die blutig beginnt und kläglich
scheitert. Quod erat demonstrandum. Wer das Wort Kommunismus heute noch sachlich
ausspricht, wird einer Verhöhnung der Stasiopfer bezichtigt, und die gesamte
Gesellschaft nickt das ab.
In
diesem Zusammenhang kommt mir eine ideologische Glanzleistung in den Sinn. In
»Vollstreckter Wahn« schafft es der Autor Martin Malia, Stalin zu
entschuldigen: er war nicht der Urheber des stalinistischen Terrors, sondern nur
der Vollstrecker des eigentlich Schuldigen: der kommunistischen Idee. Es ist
vollbracht — heute ist fast die gesamte Menschheit gegen ein Ziel, das fast
niemand kennt. Was bleibt ihr nun übrig? Die Wirtschaft weiter friedlich
wachsen zu lassen, die soviel Soziales erwirtschaftet, daß das ganze System
friedlich in den Sozialismus hinüberwächst (dessen revolutionärer Gehalt
entschärft ist, nun da er nicht mehr die Vorstufe des Kommunismus sein muß).
Geht man davon aus, daß das gelingt, bevor sich das System innerer Widersprüche
wegen recht unfriedlich benimmt, gibt es dennoch ein Problem: je sozialer
(Freizeit, Bildung) das System wird, desto mehr Möglichkeiten hat der Arbeiter,
sich denkend mit seinen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Diese Erweiterung
von Bewußtseinskapazitäten müßte im Interesse der Stabilität mit noch mehr
Ideologie aufgefüllt werden. Und da bietet sich doch gleich an, ihm
klarzumachen, daß dann nicht mehr das Kapital herrsche, sondern in den
Dienst des Sozialen gestellt werde, den Wolfskapitalismus beendend.
2.2.3.6.5.2.
Diktatur und Demokratie
Nachdem,
wie im vorigen Punkt gezeigt, die kommunistische Idee und ihre stalinistische
Verwirklichung als ein und dasselbe identifiziert wurde, kann nun eine weitere
ideologische Herausforderung gemeistert werden: die darüber hinaus gehende
Identifizierung mit dem Hitlerfaschismus. Das gelingt dadurch, daß als einzige
zulässige Klassifikation für Gesellschaftssysteme — zumindest nach dem, im
Lehrplan festgelegten, Geschichtsunterricht für Gymnasien zu urteilen — die
Unterteilung in Diktatur oder Demokratie definiert wird. Die Frage ist, ob
dieser ideologische Effekt — den »kommunistischen« Ostblock in die Nähe
des abstoßenden Faschismus zu rücken und gleichzeitig dessen personelle,
wirtschaftliche und politische Erben in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft
davon wegzurücken — nur erwünschter Nebeneffekt einer ansonsten vernünftigen
Unterteilung ist, oder ob hierin der einzige Grund für diese Klassifikation
besteht. Ich kann jetzt hier logischerweise nicht abhandeln, was Demokratie und
Diktatur wirklich bedeuten, möchte aber kurz auf einige Unklarheiten hinweisen,
die sich durch den dialektischen Widerspruch zwischen Erscheinung und Wesen bei
beiden zur Diskussion stehenden Begriffen ergeben.
Die
Diktatur, die in ihrem Wesen von dem Diktat der grundsätzlichen Unveränderbarkeit
des Systems geprägt ist, kann in verschiedenen Äußerungen in Erscheinung
treten, z.B. diktatorisch als Zentralismus oder demokratisch in Form von
Gewaltenteilung, Wahlfreiheit und Pluralismus.
Die
Demokratie, deren Wesen im Mitbestimmungsrecht der gesamten Bevölkerung
besteht, kann ebenso diese beiden Erscheinungsformen aufweisen. Daraus ergeben
sich vier Kombinationsmöglichkeiten. Umgekehrt und etwas vereinfachend ausgedrückt
heißt das auch, daß sich hinter einer diktatorischen Erscheinung entweder ein
diktatorisches oder ein demokratisches Wesen verbirgt und ebenso hinter einer
demokratischen Erscheinung. Und es ist der Regelfall, daß ein bestimmtes System
bei Beibehaltung seines Wesens auf äußeren Druck reagierend seine Erscheinung
ändert. Z.B. greift in Zeiten des akuten Bedrohtseins jedes System, genauso wie
jede kleinere Gruppierung, zu diktatorischen Maßnahmen und zur Zentralisierung,
um schnell und koordiniert handeln zu können. Nehmen wir z.B. die ersten
Jahrzehnte des 20. Jhd., als die Weltpolitik von zwei entgegengesetzten
Tendenzen beherrscht war: erstens die allgemeine revolutionäre Bewegung mit der
Revolution 1917 in Rußland und zweitens die Angst der westlichen Mächte, daß
sich diese Bewegung in ihren eigenen Ländern oder Kolonien ausbreiten könnte.
Die Hauptfront verlief zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Egal ob eine
gegenseitige Bedrohung objektiv vorliegt oder nur eingebildet ist, ist es
nachvollziehbar, daß sich die Kräfte an der Front radikalisieren. Deswegen
wurden die reaktionärsten Kreise Deutschlands im Aufbau eines faschistischen
Bollwerks gefördert gegen das Besorgnis erregende Beispiel aus dem Osten. Die
Sowjetunion war von innen und von außen von einer Konterrevolution bedroht.
Stalin, der — vielleicht begründet — an Verfolgungswahn litt, dem er mit
uneingeschränkter Kontrolle zu begegnen versuchte, hätte in dieser Situation
keinen dezentralisierten Wirtschafts- und Politapparat aufbauen können. Daß
sich mit Hitler und Stalin zwei kranke Diktatoren gegenüber standen, sagt nicht
viel über das Wesen der sich bedroht fühlenden Systeme, deren
Gesellschaftsziel oder die zu verteidigenden Werte aus. Wir sehen zwei Systeme,
die sich in ihrer Erscheinung zwangsläufig ähneln: nämlich in einer
diktatorischen Zentralisierung zur Lösung akuter Probleme, die in ihrer
sturen Radikalität das innenpolitische Risiko einkalkuliert, die Stabilität
des eigenen Systems, die doch damit gerade erzwungen werden soll, zu verlieren.
Jene
Systeme, die wir als faschistisch bezeichnen, sind neben ihrer offensichtlich
diktatorischen Erscheinung auch in ihrem Wesen eine Diktatur. Der Terminus
nationalsozialistisch kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich
imperiale Interessen der Großindustriellen mit feudalen Ansichten der
faschistischen Führer legierten, um die reaktionäre Politik solcher Länder zu
fixieren. Diese reaktionäre Ausrichtung ist im Mißtrauen gegenüber der
Selbstregulierung des freien und dezentralisierten Marktes und in einer Empörung
über die Säkularisierung aller ideellen Werte begründet.
Darin
liegt der hauptsächliche Unterschied zu einem demokratisch in Erscheinung
tretenden Kapitalismus. Gerade aber die enorme Menge an investierter
Stabilisierungsenergie (deren Aufführung hier noch lange nicht abgeschlossen
ist) zeigt, daß sowohl dieser als auch jener Kapitalismus ein System ist,
welches bewußt Energie für Stabilisierungszwecke verbraucht mit dem Ziel
der grundsätzlichen Verhinderung eines Übergangs in potentialärmere Zustände.
Genau darin würde ich das Wesen der Diktatur sehen. Das ist unabhängig
davon, ob die konkrete Methode durch wenige starr-zentralistische oder viele
elastisch-dezentrale Einzelmaßnahmen und Regelungen gekennzeichnet ist. Die
Gemeinsamkeiten zwischen Faschismus und Kapitalismus kann die unterschiedliche
Methode zwar verschleiern, aber nicht ausschalten. Doch es gibt selbst in der
Methode Analogien der Stabilisierung:
In
beiden entfremdeten Systemen gelten Spielregeln, die den Menschen individuell
und gesellschaftlich kastrieren. Zwar kann er in seltenen Fällen eine Persönlichkeit
entwickeln und sich individuell verantwortlich zeigen, aber im
gesellschaftlichen Rahmen ist es ihm nicht gegeben, über die Produktion und
Verteilung der gesellschaftlichen Güter Verantwortung zu übernehmen. Der
daraus resultierende latente Minderwertigkeitskomplex kann durch
Ersatzbefriedigung nicht gelöst und auch immer nur unzureichend verdeckt
werden. Um die Gesamtheit der Bevölkerung zu stabilisieren, bedarf es einer
bevorzugten Elite, die so konditioniert ist, daß sie Gefallen an der Rolle
findet und für den Rest der Menschen zum ersehnten Lebensideal wird und einer
diskriminierten Schicht, die einerseits als abschreckendes Beispiel fungiert und
andererseits der sich damit herausbildenden Mittelschicht als Aufwertung dient
und ihr ein verachtendes Herabblicken gönnt. Diese Rolle mußten im
Hitlerdeutschland die Juden spielen, in Amerika die Schwarzen und allgemein in
allen kapitalistischen Ländern die Arbeitslosen.
Für
den heutigen ideologischen Distanzaufbau zum deutschen Faschismus wird die ins
Auge fallende Irrationalität des Rassenwahns ausgenutzt bei der Maskierung der
Tatsache, daß es einen politischen Klassenkampf gab. Denn es wurden neben den
Juden genauso Kommunisten, Gewerkschaftler und kritische Intellektuelle in die
Konzentrationslager deportiert. Schon die Vorläufer der Faschisten, die
Lynchkommandos der Freicorpskämpfer, pflegten die Ambition, sich organisierende
Arbeiter hinzurichten. Um von politischen und wirtschaftlichen Fakten abzulenken
wird heute die judenfixierte Irrationalität genauso überbetont wie die
stilistische Aversion gegenüber dem Expressionismus bei der Aktion »Entartete
Kunst«. Denn die Werke der Expressionisten wurden ins Ausland verkauft, den
inszenierten Verbrennungen fiel nichts dergleichen zum Opfer, auch wenn das kürzlich
erst in einem neu gedrehten Film zu sehen war. En passent konnte der
sozialistische Realismus unbemerkt beseitigt werden.
Zur
Unterscheidung von Demokratie und Diktatur werden zweckdienliche Kriterien, wie
Parlamentarismus, Gewaltenteilung und Pressefreiheit bestimmt, so daß der
Faschismus jenseits und der Kapitalismus diesseits der Grenze liegt. Diese
Kriterien existieren nur formell und deswegen auf der Ebene der Erscheinungen.
Über die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums, die Gesellschaft zu
gestalten, sagen sie genauso wenig aus, wie über die historische Tendenz
des Systems. Wenn diese Unterscheidung ernsthaft gewollt wäre, vorausgesetzt es
gelänge eine klare Definition des Wesens von Diktatur und Demokratie, dann muß
berücksichtigt werden, daß das Vorhandensein einzelner Attribute
allenfalls notwendig aber keinesfalls hinreichend ist. Es müßte ein
umfassender Katalog relevanter Merkmale, die die Lebenswirklichkeit eines Volkes
und das innen- und außenpolitische Agieren des Staates unverfälscht
charakterisieren, aufgestellt werden. Der amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler P. A. Baran hat dies untersucht und zeigt in seiner
Schrift »Faschismus in Amerika«, daß die dortigen Verhältnisse einer
faschistischen Diktatur ähnlich sind. Diese Veröffentlichung ist von 1952,
also noch am Anfang der McCarthy-Ära, vor Vietnamkrieg (»Gespräche mit
Amerikanern« von Mark Lane!) und bevor Zbignew Brzezinski Schach zu spielen
begann. In seinem Buch »Die einzige Weltmacht« entwickelt der
Sicherheitsberater, der jahrzehntelang und bis heute die Außenpolitik der USA
maßgeblich mitgestaltete, die
Strategie zum Aufbau eines 1000-und-mehr-jährigen Reiches. Aber wenn der Autor
von Frieden spricht, meint er eine störungsfreie Regulation des Weltgeschehens
durch die »einzige ... und ... ewige Weltmacht«. Das Neuartige in seinem
Kampf besteht in praxi darin, daß der Krieg psychologischer ist, daß die
verdeckten Operationen noch verdeckter sind, daß sich Bürgerkrieg initiieren,
eine Militärdiktatur aufbauen, das Volk vom Diktator befreien, dabei
Infrastruktur zerstören, Aufbauhilfe leisten, Demokratie exportieren und ein
Kredit mit Rohstoffen zurückzahlen läßt. Kurz gesagt: wie man Opfer auf der
eigenen Seite vermeidet und Krieg führt, ohne in Erscheinung zu treten. Am 12.
September 2001 brachte Peter Struck im Namen der deutschen Regierung vor dem
Bundestag eine tiefsinnige Selbstanklage zum Ausdruck: »Wir sind alle
Amerikaner«. Es sollte mit der Skala vom Hitler-Deutschland über Amerika zum
Heute-Deutschland gezeigt werden, daß auf der Ebene der Erscheinung zwischen
Diktatur und Demokratie ein Kontinuum besteht. Ich hätte Amerika auch auslassen
können.
Kommen
wir nun zu den Unrechtsstaaten: Es ist schon paradox: Die Verfälschungen, die
unaufhörlich überall vor- und nachgebetet und mittlerweile schon mit der
Muttermilch weitergegeben werden, sind in ihrer Einhelligkeit dermaßen totalitär,
daß selbst jemand, der ein Jahr von der Stasi verhört wurde, die Verpflichtung
spürt, korrigierend einzugreifen. Vor allem möchte ich zeigen, daß und warum
der Sozialismus in seiner Erscheinung eine Diktatur, aber in seinem Wesen eine
Demokratie war, und daß die Gefahr, dieses Wesen zu verlieren, dort lag, wo sie
weniger vermutet wird. Einen ersten Grund für diktatorische Maßnahmen hatte
ich schon mit der gegenseitigen Bedrohung genannt. Der zweite Grund liegt in der
angedeuteten Dialektik zwischen Sein und Bewußtsein. Das Bewußtsein ist die
Reflexion des Seins und geht bei der Gestaltung des Seins immer von sich selbst
aus, also vorrangig restaurativ. Ein Bewußtseinswandel kann daher nur von einem
Seinswandel begleitet werden und ist nur iterativ problemlos möglich.
Die Umwälzungen 1917 in Rußland und 1945 in Osteuropa stellten einen schroffen
Wandel des Seins dar, der für das Bewußtsein schwierig, mit Leid verbunden
oder kaum überbrückbar war. Eine Schuldzuweisung deswegen an die Initiatoren
des neuen Systems wäre völlig abwegig, denn das Maß für die Schroffheit
liegt ja gerade darin, wie lange in dem überwundenen System die ausgereiften
Potentiale künstlich und gewaltsam blockiert wurden. Mit dem Seinswandel verändern
sich auch grundlegend die Spielregeln. Überlebens- und Anpassungsstrategien,
Verhaltensmuster und Motive, die der Betreffende im alten Paradigma erlernt und
perfektioniert hat, sind nun unnütz oder wirken sich für ihn persönlich und
die Gesellschaft zum Nachteil aus. Doch die Paradoxie der menschlichen Psyche
besteht darin, daß bei ungenügender Wirksamkeit von Verhaltensmustern der
Betreffende sich umso stärker an sie klammert. Auch wenn dieses neue Sein in
seiner geschichtlichen Tendenz richtig, also für einen Weg in potentialärmere
Zustände offen ist, dann bedarf es einer zentralistischen (notfalls auch
diktatorischen) Konsolidierung über einen gewissen Zeitraum, bis das
gesellschaftliche Bewußtsein realisiert hat, daß das neue Sein dem
menschlichen Wesen adäquater ist. Die Schwierigkeiten bestehen einerseits
darin, das neue System so zu stabilisieren, daß es vor einer sehr
wahrscheinlichen Rückreaktion gefeit ist, ohne dabei den eigenen beabsichtigten
Weg zu blockieren und andererseits, daß der Beweis der höheren Adäquatheit
durch das Sein erbracht werden muß und nicht durch Propaganda (siehe Robert
Havemann: »Dialektik ohne Dogma«). Ein weiterer dialektischer Widerspruch
wurzelt darin, daß die verantwortungsbewußte gesellschaftliche Aneignung der
Produktionsmittel das Gemeinschaftsgefühl als Voraussetzung braucht.
Andererseits kann dieses echte tiefe Gemeinschaftsgefühl, wie schon gezeigt,
nicht entstehen, solange noch eine Fixierung am Privateigentum vorliegt. Die
schrittweise Loslösung vom Privateigentum setzt die gelungene Loslösung vom
Privateigentum an Produktionsmitteln voraus. Dieser höchst sensible,
umfangreiche und langwierige kausale Kreis zwischen Enteignung und Aneignung
durch das Volk muß mittels administrativer Kontrolle und einem (eigentlich dem
Gemeinschaftsgefühl kontraproduktiven) Leistungsprinzip überbrückt werden.
Die sozialistischen Länder sind an der Aufgabe gescheitert, die verstaatlichten
Produktionsmittel zu vergesellschaften. (Dieser schwerwiegende Fakt, nämlich daß
die Bevölkerung es ablehnte, die angebotenen Produktionsmittel sich
anzueignen, zeigt, wie absurd jeder Versuch ist, durch äußere Merkmale den
Sozialismus und den Faschismus in eine Schublade zu stecken. Denn das
Angebot stand dort nie.)
Die
sozialistische Propaganda konnte nicht verhindern, im Gegenteil, sie verstärkte
es wesentlich, daß der Einzelne sich unterdrückt fühlte und gleichzeitig die
damit verbundene Geborgenheit genoß. So etwas macht leichtsinnig. Wie ernst der
Kalte Krieg war, hat die östliche Bevölkerung nie begriffen. Welches nun die
primäre Ursache für das Scheitern war, läßt sich genauso wenig sagen, wie im
Krankheitsfall, ob es am Immunsystem oder am Virus lag.
Allerdings
gibt es noch eine weitere bedeutsame Fragestellung, nämlich ob die historische
Tendenz überhaupt noch die richtige war. Für solches Abweichen vom Ziel sind
innere und äußere Ursachen auszumachen. Der Kalte Krieg auf militärischer,
wirtschaftlicher und kultureller Ebene zwang das sozialistische System zu
einer Anpassung. Diese Anpassung kann statisch (die treibenden Kräfte bleiben
erhalten, aber die Schwerpunkte werden temporär verlagert) oder dynamisch sein
(verbunden mit einer Änderung der treibenden Kräfte). Eine solche dynamische
Anpassung blieb vermutlich nicht aus, da die Aufmerksamkeit der Theoretiker des
Sozialismus in der realpolitischen Auseinandersetzung mit dem Gegner völlig
absorbiert wurde und sie ein kommunistisches Ziel weitestgehend aus dem Auge
verloren. Aber auch innere Ursachen gab es von Anbeginn des sozialistischen
Aufbaus. Der dialektisch-historische Materialismus ist in praxi nicht dem
Anspruch seiner Protagonisten, eine offene wissenschaftliche Metatheorie zu
sein, gerecht geworden. Die Aneignung der Psychoanalyse, in der Sowjetunion anfänglich
noch versucht (1921 Gründung des Psychoanalytischen Kinderheims in Moskau),
wurde später von Stalin gebremst. Ebenso in der Weimarer Republik: Die
Arbeiterklasse, voller Stolz Träger der historischen Mission zu sein, glaubte
dem Bürgertum ihre Überlegenheit zeigen zu müssen. Da sie aber wirtschaftlich
eindeutig unterlegen war, konnte sie das nur auf der Ebene der Moral. Aber
welcher? Sie hatte ja nur die bürgerliche! In der Psychoanalyse sahen ihre Führer
eine Beschäftigung mit niederen Instinkten und lehnten sie ab nach dem Motto:
Reich will doch nur aus unseren Turnhallen Bordelle machen. Nach dem Zweiten
Weltkrieg schien die Psychoanalyse im Ostblock überhaupt keine Rolle zu
spielen.
War
mit diesem Abweichen vom Kurs der Sozialismus noch ein entfremdeter Kommunismus
(als diktatorische Erscheinung eines demokratischen Wesens), oder hatte er sein
Wesen bereits verändert? Impliziert nicht die fanatische Vehemenz des
ideologischen Kampfes der antikommunistischen Liga eine Antwort auf die Frage? Nämlich,
daß sie einer Verwirklichung der kommunistischen Idee noch enormes
Potential bescheinigt.
Eine
Demokratie in Wesen und Erscheinung wäre ein System, das der Mitbestimmung
aller nicht nur das Recht erteilt, sondern ihnen alle dafür notwendigen
Voraussetzungen liefert. Das wäre in der adäquaten Gesellschaft der Fall, und
der Kommunismus ein Weg dahin.
Diese
Auseinandersetzung abschließend, denke ich, daß eine Klassifikation von
Gesellschaftssystemen in Diktaturen und Demokratien, gerade weil die Gefahr
besteht, daß die Argumentation die Ebenen von Wesen und Erscheinung überkreuzt,
unbrauchbar ist und vorrangig ideologische Absichten verfolgt.
Mehr
wissenschaftlichen Charakter hat eine Klassifikation, die sich auf die Analyse
der treibenden Kräfte stützt. Die den Gesellschaftscharakter der uns aus der
Geschichte bekannten Systeme primär bestimmende Größe ist die Gesamtheit der
Beziehungen, in der die einzelnen Gesellschaftsschichten zu den
Produktionsmitteln stehen. Insofern ist eine Klassifikation in Urgesellschaft,
Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Kommunismus überlegen.
Ein System, im Teufelskreis von Kapitalakkumulation und Konkurrenzkampf
gefangen, in dessen Entwicklung alles in Kapital verwandelt wird und dieses in
einen Fetisch, in einen Ismus, findet keine adäquatere Bezeichnung als
Kapitalismus. Und nach dieser Lesart ist ein Faschismus auch nur ein
Kapitalismus.
(An
diesem Punkt sind alle von mir bisher diktierten Texte erschöpft. Um die noch
folgenden und zum Verständnis der Gesamtheit notwendigen Gedanken zu äußern,
werde ich ab jetzt stichpunktartig den Text fortsetzen)
2.2.3.6.5.3.
Freiheit als Wahlfreiheit
Wirkliche
Freiheit wäre, wenn:
-
voraussetzender Akt (Unabhängigkeit) und
-
erfüllender Akt (Fähigkeit & Motiv) vorhanden sind.
Das
schließt aus: Wünsche verfolgen, die aus objektiven Gesetzmäßigkeiten
nicht zum Erfolg führen.
Das
setzt weiterhin voraus: Selbstbewußtsein (d.h. zu wissen, woher die Wünsche
kommen, ob sie wirklich meine sind, welchen Zweck sie wirklich haben).
Dem
Selbstbewußtsein und der Unabhängigkeit als Voraussetzung für Freiheit wirkt
entgegen:
-
massive Beeinflussung durch Suggestion
-
Autosuggestion und Rationalisierung
-
Ideologie und konformistischer Zwang
-
kritiklose Aneignung der Spielregeln
Der
Fähigkeit und dem Motiv zur Freiheit steht entgegen:
-
ungenügende Kenntnisse
-
ungenügender Gemeinschaftssinn (resultierend aus dem Aufwachsen unter
Konkurrenzdruck)
-
Unkenntnis der eigenen rationalen Motive, da sich die irrationalen oft in
den Vordergrund schieben
-
ambivalente Haltung zur Verantwortung
Wozu
ist die Freiheit eigentlich notwendig?
Zur
Befriedigung der angeborenen Bedürfnisse (siehe Wesen des Menschen).
Fazit:
-
Voraussetzungen werden stark beeinträchtigt
-
Erfüllende Fähigkeiten sind kaum vorhanden
-
Die Nichterfüllung unbedingter Bedürfnisse übt zwar einen Leidensdruck
aus, aber da die Bedürfnisse kaum bekannt sind, erfolgt keine Abhilfe.
Stattdessen Schaffung von Pseudobedürfnissen, Fixierung an diese und
industrielle Absättigung
→ keine Freiheit
Stattdessen:
Wahlfreiheit innerhalb der Pseudobedürfnisse. Zu Wahlfreiheit fasse ich
verschiedene Aspekte zusammen, die man wählen kann:
-
welche Produkte man kauft
-
welche Partei man wählt
-
welches Reiseziel man bestimmt
-
welche Krawatte man umbindet
-
welche Meinung von den vorkonsumierten man äußert
-
welchen Fernsehsender man einknipst
Diese
Wahlfreiheit basiert auf einer derartigen Normierung des Einzelnen, daß
er meint, der ihm zur Verfügung gestellte Handlungsspielraum sei identisch mit
der Gesamtheit aller Möglichkeiten und er darüber hinaus übersieht, daß auch
innerhalb des Rahmens nur eine bereits von anderer Seite aus getroffene
Vorauswahl zur Wahl steht.
Eine
Freiberger Schulklasse war in zwei gleichgroße Fan-Lager gespalten: die eine Hälfte
liebte Michael Jackson, die andere die Kelly-Family. Die Situation war
gekennzeichnet von hingabevoller Verehrung der Idole, Feindschaft zwischen den
Lagern und davon, daß sie alternativlos war — es gab niemanden, der sich
traute außerhalb zu bleiben oder gar einen dritten Musiker ins Spiel zu
bringen. Es ist völlig klar, daß der Entscheidung, sich dem einen oder anderen
Lager zuzuwenden, nicht der Musikgeschmack zugrunde liegt, sondern das identitätsstiftende
Bekenntnis zu den Personen des harten Kerns der einzelnen Lager.
Der
Fall ist zwar kraß, aber sicher kein Einzelfall. Das Argument: es bestünde
doch — rein rechtlich — die Möglichkeit, davon auszubrechen, ist zwar
richtig, aber theoretische Spekulation. Weil es eben völlig belanglos ist, um
welche Musik es sich handelt (dreißig Jahre zuvor hätte sich eine Klasse aus gleichen
Gründen in Sweet- und Bay-City-Roller-Fans geteilt), sondern es wirken
gesellschaftliche Bedingungen in die Klasse hinein, die zu irgendeiner
Anpassung zwingen. Daß diese lustvoll und eigeninitiatorisch erfolgt,
verwandelt den Zwang in eine scheinbare Freiheit, sozusagen in eine
Wahlfreiheit. Gerade der gebetsmühlenartige Drill und sein offensichtlicher
ideologischer Zweck, mit dem der Glaube an Freiheit eingebleut werden soll,
konterkarieren bei einem kritischen Menschen genau diesen Glauben.
2.2.3.6.5.4.
Verleugnung des menschlichen Wesens
Die
Choreographie der zahlreich vorhandenen Literatur ähnelt sich: eingeleitet mit
dem Aufzählen der sündhaftesten Vergehen in der Menschheitsgeschichte,
fortgesetzt mit der Klage über die schrecklichen Zustände, kontrastiert mit
einem Streifzug durch mögliche Utopien kommt der Kontrapunkt der nüchternen
Erkenntnis, daß diese alle an einem Faktum scheitern: am menschlichen Wesen.
Denn das sei aggressiv und egoistisch. Den Menschen in eine bessere
Gesellschaftsordnung zu zwingen, mache ihn nur widerspenstig oder psychisch
krank. Also kann es nicht Aufgabe der Kultur sein, nach neuen
Gesellschaftsformen zu suchen, sondern nach geeigneten Sublimationsmöglichkeiten
für das zivilisierte Entäußern der Aggression. Da bietet sich Sport an oder
Rockmusik. Zur Begründung des Egoismus′ wird die Darwinsche Lehre auf′s
Unlogischste deformiert: der »Einzelne muß seine Gene durchsetzen« und
manchmal auch mit einem Tierfilm untermalt, in dem der eine Löwe einen anderen
beißt.
2.2.3.6.5.5.
Unsere Kultur — ein Exportschlager
Teil
der systemstabilisierenden Ideologie ist auch die Erzeugung eines Glaubens an
die Alternativlosigkeit unserer Kultur. Dazu muß mit mehr oder weniger
friedlichem Engagement unsere Lebensweise in alle Länder der Welt exportiert
werden. Soziale Unruhen in anderen Staaten werden genutzt oder erzeugt, um sie
in der massenmedialen Berichterstattung so zu interpretieren, daß sich die Völker
der Welt nach einer Demokratie, wie es die unsere ist, sehnen.
2.2.3.6.5.6.
Zusammenfassung Ideologie
Die
Kernaussage der Ideologie lautet: Es ist eine weltweite Sehnsucht nach einer
demokratischen Marktwirtschaft zu beobachten, denn sie bietet mehr Freiheit als
alle bekannten und denkbaren Modelle. Wer dennoch gewissen Unzulänglichkeiten
kritisch gegenüber steht, sollte sich einerseits klarmachen, daß es keine
prinzipielle Alternative gibt, denn der kommunistische Versuch ist praktisch
gescheitert — das zeigt der Geschichtsprozeß — und ist auch theoretisch
zum Scheitern verurteilt, da die zugrunde liegende kommunistische Idee (die
diktatorische Gleichmacherei) dem Wesen des Menschen widerspricht; und
andererseits sollte er begreifen, daß jene Unzulänglichkeiten genau in diesem
Wesen begründet sind und nicht im ökonomischen System.
Die
Ideologie ist deswegen systemstabilisierende Energie, da sie für ihre Erzeugung
und Verbreitung Energie verbraucht, und sie ist insofern systemstabilisierend,
weil sie tatsächlich zum großen Teil konsumiert wird. Die Ideologie in ihrer
heutigen Form ist höchst wirkungsvoll, weil sie in suggestiv aufbereiteter Form
vorgetragen wird (z.T. mit Hilfe von Fachleuten aus der Werbebranche oder
Psychologen, z.B. die Brutkastenstory der Pro-Golfkriegkampagne 1990 der
PR-Agentur Hill & Knowlton), und weil sie auf die enorme Suggestierbarkeit
des Menschen trifft. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von Propaganda, weil
sie Ängste unterschwellig erzeugt, die mit mitgelieferten Illusionen verdrängt
werden, so daß der Mensch von den Illusionen abhängig wird. Diese Illusionen
stehen in Konkurrenz zu den realen Möglichkeiten und verdrängen diese aus dem
Gesichtskreis. Über die Mittel der Ideologieverbreitung verfügt nur der, der
die politische oder ökonomische Macht hat. Sein Ziel ist die Konservierung oder
Erweiterung dieser Macht. Dabei kann er mittels der Ideologie tief in den zu
beherrschenden Menschen eindringen, ihn nicht einfach nur statisch, sondern
dynamisch und nachhaltig verändern und dabei — was nie ausbleibt — verletzen.
Das steht in einem bemerkenswerten Widerspruch zu sonstigen Gesetzen,
die das ungebetene Eindringen in fremde menschliche Körper verbieten, ja sogar
in jegliche physische Territorien; die sogar die Emission von Schall und Abgasen
limitieren. Nur die Emission von Ideologie ist erlaubt, nicht nur das, sie wird
zum Lehrplan in der Schule, zum Prüfungsbogen für Einwanderungswillige usw.
Die an dieser Stelle scheinbar plausible Frage, warum das erlaubt ist, ignoriert
den geschichtlichen Prozeß. Denn früher war jegliches Perforieren den
Machthabern gestattet. Daß der physische Sektor heute geschützt wird, liegt
zum einen am bisher erreichten Level der Unterdrückten in ihrem Befreiungskampf
und zum anderen daran, daß die unterdrückende Seite festgestellt hat, daß es
mit weniger Aufwand verbunden ist, die Zuunterdrückenden mit einem
implantierten Empfänger fernzusteuern. Sie sind nun nicht mehr Unterdrückte,
sondern Rezipienten. Ähnliches hat Marx schon an der neuen Moral des
Protestantismus beobachtet: »Luther ... hat den Leib von der Kette
emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt, ... er hat die Pfaffen in Laien
verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat«. So steht stattdessen
die berechtigte Frage, warum der Mensch sich nicht mittlerweile soweit erhoben
hat, auch seinen psychischen und geistigen Sektor zu schützen und vor allem,
warum er die Ideologie so willig aufnimmt. Nun, weil die Ideologie als
Rationalisierung dient. Die allgemeine Verfassung ist doch: Mutlosigkeit gegenüber
gesellschaftlichen Utopien, Angst vor Konflikten bei politischem Engagement, die
Illusion, selbst irgendwann zur bessergestellten Schicht zu gehören und das aus
dieser Komplizenschaft mit der Macht resultierende Schuldgefühl. Hieraus erwächst
eine widersprüchliche Haltung: die Verhältnisse konservierend, aber
unzufrieden. Ein typisches Dilemma der menschlichen Psyche, welches zu verdrängen
und rationalisieren der Mensch gezwungen ist, wenn er es nicht lösen kann oder
will. So ist jeder Einzelne damit beschäftigt, Rationalisierungen zu kreieren,
kopieren, kombinieren, optimieren und im Kollektiv zu kommunizieren, die an sich
schon einem konservativen Motiv dienen, so daß die lenkende Hand der
ideologischen Chefetage nur noch zwischen ihr mehr oder weniger nützlichen
Ideen auswählen und für deren Verbreitung sorgen muß. Vereinfacht gesagt, ist
die Ideologie ein gesellschaftliches Gesamtprodukt, welches die menschliche Schwäche
entschuldigt und deswegen so freiwillig konsumiert wird.
Muß
unter den gegebenen Aspekten von Ideologie, Suggestierbarkeit und
Rationalisierungen (die Komponenten für den Aufbau von Vorurteilen) dem
Menschen jede Mündigkeit abgesprochen werden? Natürlich nicht, es ist gerade
der Sinn dieses Textes, herauszufinden, welche Gegenmittel der Mensch besitzt.
Das wäre z.B. eine Wissenschaftlichkeit, die den eigenen Vorurteilen rücksichtslos
gegenübertritt. Wobei deren Überwindung nur sukzessive gelingt, denn der
Mensch ist oft nur bereit, eine Wahrheit zu glauben, die nicht allzu weit vom
Vorurteil abweicht.
Vorurteile
müssen nicht immer negative sein. Es gibt auch positive: das würde unsere
Regierung nie tun. Der Täter kann von dem Paradoxon profitieren, daß die
Absurdität der Tat vor ihrer Entlarvung schützt.
In
dem Maße, wie die konkrete Gesellschaft von der adäquaten abweicht, ist
durchschnittlich auch jeder Einzelne entfremdet. D.h. er kann seine Bedürfnisse
nicht befriedigen, sondern hat die ihm aufgezwungenen Ersatzbedürfnisse
akzeptiert. Er kann sich nicht selbst produktiv (das schließt das Geistige und
Kreative mit ein) verwirklichen, sondern erfüllt eine Aufgabe, die er mehr oder
weniger als die seine annimmt. Kurz: er spielt eine Rolle, die mehrere
kompliziert ineinander greifende Ebenen hat:
deren
objektiven äußeren Zwang er erkennt, falls er vorhanden ist;
der
er einen objektiven äußeren Zwang rationalisierend andichtet, um sie weiter
spielen zu können;
deren
objektiven äußeren Zwang er verdrängt und als seinen Wunsch rationalisiert;
gegen
die er rebelliert, sie aber dennoch verteidigt, wenn sie von anderen kritisiert
wird;
deren
Ende er herbeisehnt, es aber immer vor sich herschiebt usw.
Diese
Vorgänge sind mit andauernder Nerventätigkeit verbunden, die Energie
verbraucht. Wiederum Energie, die nicht mehr nutzbar zur Verfügung steht,
sondern die das System zu seiner Stabilisierung im entsprechenden (entfremdeten)
Zustand verbraucht. Ein weiterer Energieverlust ist mit dem Rollenspiel dadurch
verbunden, daß jeder Einzelne nur einen Bruchteil der Produktivität erlangt,
die er hätte, würde er seine volle Authentizität erreichen.
2.2.3.6.7.
Befriedigung der Pseudobedürfnisse
Daß
des Menschen unbedingte, objektive Bedürfnisse größtenteils unbefriedigt
bleiben, ist nicht nur eine Folge der unzulänglichen gesellschaftlichen
Verhältnisse, sondern Voraussetzung für die Konsumbereitschaft der ihm
aufgezwungenen Produkte, damit Legitimation deren Produktion und
Profitrealisierung der Produktionsmitteleigentümer und damit letztlich eine der
wichtigsten Ursachen dieser unzulänglichen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Darüber hinaus ergibt sich über die Erzeugung und Befriedigung von Bedürfnissen
(das schließt auch die spirituellen, emotionalen und sexuellen mit ein) eine Möglichkeit,
nahezu das gesamte menschliche Verhalten zu steuern. Somit schlägt nicht nur
die Produktion des größten Teils aller Konsumgüter (inklusive der
Massenmedien und Unterhaltungsemission), sondern auch alle Anstrengungen der
Marketingbranche, der Umweltverschmutzung durch Reklame und die für den Konsum
verbrauchte Zeit als Systemstabilisierungsenergie zu Buche.
2.2.3.6.8.
Religion und Kirche
üben
Funktionen aus, die denen unter »Disziplin & Ordnung« und
»Ideologie« dargestellten ähnlich sind.
2.2.3.6.9.
Sozialmaßnahmen und Förderprogramme
Die
anderen Systemstabilisierungsmaßnahmen richten ihr jeweiliges Augenmerk immer
auf ein zu stabilisierendes Problem und erzeugen ihrerseits Ursachen für
Instabilitäten oder Probleme anderen Ortes, z.B.:
-
daß die Bildung weiträumig wegbricht
-
daß bestimmte Berufszweige notwendig, aber nicht rentabel sind
-
daß wirtschaftliche Innovation stimuliert werden muß, ehe sie rentabel wird
-
Reputationskonkurrenzkampf einzelner Staaten untereinander (auch wiederum
nützlich für Kulturexport und Einflußnahme)
-
daß Bevölkerungsschichten sich benachteiligt fühlen, aggressives
Stimmungspotential entsteht
-
daß regierende Parteien an der Macht bleiben wollen, auf die Gunst der Wähler
angewiesen sind und deswegen populäre Maßnahmen fördern usw.
Es
handelt sich hierbei im Vergleich zur restlichen Stabilisierungsenergie um
geringe Beträge; es ist sozusagen die Feinjustierung des Systems.
Ohnehin
sind es nicht die ausgezahlten Gelder, die hier zählen, sondern die damit Beschäftigten
beim Entwurf und der Planung der Maßnahmen, die kriminelle Energie bei der mißbräuchlichen
Ausnutzung, die daraufhin erforderliche Kontrolle, der legale aber nicht
zweckbestimmte Gebrauch, die deswegen notwendige Nachregelung der Bestimmungen
uswusf.
Im
allgemeinen herrscht Übereinkunft, daß die Sozialmaßnahmen einer Schaffung
von Gerechtigkeit dienen, die die »freie Marktwirtschaft« von sich aus nicht
herstellen kann. Doch von welchem Axiom wird diese Gerechtigkeit abgeleitet? Vom
Recht? Aber dies zeigt sich veränderlich, wird manchmal — gerade im Sinne
der Gerechtigkeit — neu angepaßt, ist also kein Axiom. Vielleicht haben
Recht und Gerechtigkeit einen gemeinsamen Grundsatz: den der Richtigkeit.
Das
Richtige zu suchen hieße zumindest:
1.
von eigenen kurzsichtigen Interessen abstrahieren zu können
2.
um gesellschaftlichen Experimenten und Erkenntnissen gegenüber offen zu
sein
3.
dabei Verzicht auf eine Ideologie, die eigentlich jede Veränderung bekämpft
4.
sich um eine wahrheitsgemäße Theorie des menschlichen Wesens zu bemühen
5.
die diesem Wesen adäquaten gesellschaftlichen Randbedingungen zu
definieren
6.
um davon das Richtige abzuleiten.
Doch
die vorzufindende Form der systemstabilisierenden Gerechtigkeitsschaffung
verfolgt den Zweck, genau diese Schritte zu verhindern.
2.2.3.6.10.
Zusammenfassung der Systemstabilisierungsenergie in der heutigen entfremdeten
Gesellschaft
Allein
die bisher erfassten systemstabilisierenden Maßnahmen ergeben ein Regelwerk,
welches ein gigantisches Volumen verschlingt, von dem, nebenbei bemerkt, die
riesigen Rüstungsausgaben nur einen Bruchteil ausmachen.
Der
Verbrauch betrifft nicht nur den größten Teil aller erwirtschafteten Güter,
sondern auch der verfügbaren natürlichen und menschlichen Ressourcen.
Vielleicht bleibt noch ein Prozent übrig, welches der betrachtete Teil der
Menschheit zur Bedürfnisbefriedigung nutzen kann. Aber neunundneunzig Prozent
geben wir hin, um eine alle Mitglieder unserer Gesellschaft unterdrückende
Stabilität zu erreichen. Sollte hierin vielleicht das Axiom für Gerechtigkeit
liegen: in der organisierten Vernichtung fast aller Werte, um sicherzustellen,
daß »Unbefugte« sich nicht
zuviel nehmen, auch wenn für jeden das Hundertfache dessen, was für seine
Befriedigung notwendig ist, verfügbar wäre, gäbe es diese Gerechtigkeit
nicht? Mancher Kritiker meint, die Ökonomie dient nicht mehr dem Menschen,
sondern der Mensch der Ökonomie. Das mag stimmen, doch bleibt zu ergänzen, daß,
wenn der Mensch der Ökonomie dient, diese ziemlich unökonomisch wird.
Eine
Fabel, die wir in der Schule behandelt hatten, erzählte davon, daß zwei Igel
das Glück hatten, einen großen Käse zu finden. Ratlos standen sie vor dem
Problem einer gerechten Teilung, zu der eigentlich nur der Fuchs imstande war.
Er biß den Käse etwa in der Mitte durch — aber nicht ganz genau. Vom größeren
Teil mußte er etwas abbeißen und runterschlucken, darauf bestand der Igel mit
dem kleineren Teil. Leider biß er zuviel ab. Und so ging es immer abwechselnd,
bis am Ende zwei exakt gleichgroße Kügelchen übrig blieben. Die Igel waren
zufrieden und bedankten sich artig. Als Kinder haben wir über den Unfug
gelacht. Als Erwachsene verankern wir ihn im Grundgesetz.
2.2.3.7.
Überwindung des Potentialwalls
Bevor
auf die Überwindung des Potentialwalles eingegangen werden kann, sind noch
einige klärende Bemerkungen notwendig, die gewisse Eigenschaften der
potentiellen Energie veranschaulichen. Sehr allgemein gilt, daß die höchste
potentielle Energie bei totaler Beziehungslosigkeit der Materiepartikel
vorliegt. Die Organisierung der Materie (also ein Beziehungsaufbau) führt in
potentialärmere (und somit stabilere) Zustände. → Elementarteilchen → Atom → Verbindung → Lebewesen → gesellschaftlich planendes Lebewesen. Durch den Beziehungsaufbau wird die
Materie stärker ausdifferenziert, die Anzahl der Freiheitsgrade nimmt zu und
die Möglichkeiten der weiteren Interaktion werden zunehmend adäquater. Beschränken
wir uns innerhalb der Materie auf das Paradigma Menschheit: Schon der Übergang
vom Affen zum Urmensch war ein Wechsel in einen potentialärmeren Zustand, bei
dem sich die freiwerdende kinetische Energie auf die neu hinzukommenden
Freiheitsgrade verteilt. D.h., die höhere Flexibilität führt am Anfang der
Menschheitsgeschichte zur besseren Anpassung an die Umweltbedingungen und zu höheren
Überlebenschancen. Im weiteren Verlauf bedeutet es die zunehmende
Selbstverwirklichung des Individuums. Innerhalb der Menschheitsgeschichte liegt
das Maximum der potentiellen Energie in der Urgesellschaft und das Minimum ist
das Ziel der adäquaten Gesellschaft.
Es
bleibt festzuhalten: am Anfang existiert eine potentielle Energie des Systems
Menschheit, die nicht durch die Menschheit selbst — in Form irgendeiner Arbeit — in den Zustand
des Systems gebracht wurde. Diese potentielle Energie
besteht in den verborgenen Möglichkeiten, die vor der Herausbildung des
Menschen noch folgende sind: Arbeitsteilung, Werkzeuggebrauch,
Kommunikationsmittel, Verständnis für Naturvorgänge, Organisation in
Hierarchien usw. Wenn durch Entdeckungen die verborgenen Potentiale
abgebaut und die freiwerdenden Differenzbeträge an Energie genutzt werden,
verlagert das System seinen Zustand auf ein potentialärmeres Niveau. All solche
Übergänge verlaufen über einen geringfügigen oder höheren Potentialwall.
Solange
es sich um kleine Potentialwälle handelt, kann die Aktivierungsenergie von
einzelnen oder wenigen »energiereichen« Personen aufgebracht werden oder sie
resultiert aus der Antizipation des bevorstehenden Entdeckungserfolges oder der
Zustandswechsel verläuft als Kettenreaktion, so daß die freiwerdende Energie
als Aktivierungsenergie den nächsten Personen dient. Solche Übergänge kann
man als evolutionäre Zustandswechsel bezeichnen.
Die
Personen, die die meiste Energie besitzen (das bedeutet sowohl geistige Energie
und Inspiration, wie auch physische Macht und Einflußmittel) werden
logischerweise die Aktivierungsenergie solchen Zustandswechseln zuführen, die
ihnen nützlich erscheinen und können infolge dessen ihren Einfluß weiter
ausbauen. In dem Maße aber, wie sie sich als Nutznießer eines Zustandes sehen,
begeben sie sich in die Abhängigkeit dieses Zustandes und stehen weiteren
(ihnen fremden) gesellschaftlich wirksamen Zustandswechseln auf potentialärmeres
Niveau konservativ gegenüber. Das äußert sich darin, daß sie relevanten
Entdeckungen eine Notwendigkeit und Möglichkeit absprechen, daß sie versuchen,
diese zu verhindern oder deren Gebrauch. Neben diesen starren Methoden hat sich
zunehmend gezeigt, daß elastische repressive Methoden weniger störanfällig
sind. Dem wird entsprochen, indem der allgemeine Gebrauch gebilligt, ja sogar
gefördert und dabei kanalisiert wird, aber gleichzeitig die freiwerdende
Energie, in status nascendi eine systemstabilisierende Arbeit verrichten muß.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es wird natürlich keine Person, die ihre
Position im Status quo erhalten will, das bewußte Anliegen haben, dem System
potentielle Energie zuzuführen. Dennoch ist es das Resultat ihrer Bemühungen,
das System soweit auszusteifen, daß die neue Entdeckung zu keiner Veränderung
der Verhältnisse führt. Dabei verlagert das System zwar seinen Zustand, aber
nicht wesentlich, denn das Maß der potentiellen Energie bleibt erhalten,
vergleichbar mit einem (reibungsfrei betrachteten) Vorgang, bei dem das
chemische Potential eines Bleiakkumulators abgebaut wird, indem ein
angeschlossener Motor einen Stein auf eine bestimmte Höhe hebt. Trotzdem der
Betrag der potentiellen Energie etwa konstant bleibt, ist es bedeutend, zwischen
dem Zustand vor und nach der Entdeckung zu unterscheiden, d.h. zwischen den
unbekannten und den verhinderten Möglichkeiten.
Würde
beispielsweise ein neuartiges, billiges, schnelles und von jedermann zu
handhabendes Druckverfahren über Flugschriften obrigkeitsfeindliche Aufklärungsarbeit
in einer herrschenden Diktatur leisten können, dann müssen repressive Mittel
im Dienste der Systemstabilisierung eingesetzt werden, die mit der jeweiligen
Wirkungslosigkeit der starren durch elastischere ersetzt werden: Verbot → Limitierung der technischen Verfügbarkeit → Zensur der Inhalte → ideologische Beeinflussung
der Verfasser → allgemeine Verstörung der Leser → Überschwemmung statt Zensur. Das Beispiel zeigt:
Vor der Entdeckung bestimmte
eine a priori-potentielle Energie den Zustand.
Demgegenüber ist die nach der Entdeckung investierte
Systemstabilisierungsenergie eine Arbeit, die reaktionär zielgerichtet, wenn
auch nicht bewußt, von Menschenhand geleistet wird. Diese Form der potentiellen
Energie ist — nun da die Entdeckung entdeckt ist — auch schneller wieder
freisetzbar. Wobei letzteres sehr stark von der Verschachtelung der
systemstabilisierenden Maßnahme abhängt: Ein zentralistisches Verbot läßt
sich ruckartig wieder einreißen, wohingegen dezentralisierte Maßnahmen von
miteinander verkoppelten Regulationsmechanismen (Bürokratie, Ideologie,
Selbstzensur, sadomasochistische oder konformistische Ausrichtung des Bevölkerungscharakters
usw.) eine starke Bremsung des Wiederfreisetzungsprozesses bewirken. Darüber
hinaus besteht die Möglichkeit — und das ist die Situation in den Demokratie
genannten Diktaturen — durch ein Überangebot an auszuwählenden Optionen,
durch Verstörung und Überschwemmung, durch Suggestion und Schaffung von
Minderwertigkeitskomplexen die Bevölkerung soweit in Lethargie und
Unaufmerksamkeit zu treiben, daß diese feingliedrigen Systemstabilisierungsmaßnahmen
als solche nicht erkannt werden und deswegen zu schwer freisetzbaren Potentialen
werden. Trotzdem sind die Entdeckungen entdeckt und die Systemstabilisierung
bleibt für Menschen, die sich gegen den Einfluß immunisieren, prinzipiell
durchschaubar. Das bedeutet für die Potentiallage des Systems, daß es von wesentlich
potentialärmeren Gebieten umgeben ist, dazwischen aber ein hoher Wall an
Aktivierungsenergie liegt. Aus thermodynamischer Sicht (die nur den Anfangs- und
Endzustand berücksichtigt) müßte ein sehr heftiger Zustandswechsel erfolgen,
während aus kinetischer Sicht (die den Weg dahin untersucht) kaum eine Übergangsmöglichkeit
gegeben ist, wenn dem System von außen keine Aktivierungsenergie zugefügt
werden kann, da es als abgeschlossen gilt. In dieser konfliktreichen Situation
sind evolutionäre Übergänge in tiefere Potentiallagen nicht mehr möglich.
Sollte aber von irgendwoher die Aktivierungsenergie aufgebracht werden, erfolgt
eine Revolution. Die Hauptinteressenten des Status quo sind nun völlig
gezwungen, die mit jeder gesellschaftlich relevanten Entdeckung freiwerdende
kinetische Energie sofort systemstabilisierend zu verbrauchen und alle Möglichkeiten
der Aktivierung zu verhindern.
Aber
ist denn theoretisch überhaupt ein Zustandswechsel auf ein tieferes
Energieniveau möglich, woher soll die nötige Aktivierungsenergie kommen und
wer könnten die Protagonisten dafür sein? Diese Fragen können wir nur
beantworten, wenn wir die Besonderheiten der menschlichen Natur in unserem
Modell berücksichtigen: die Fähigkeit der Erkenntnis, der Kommunikation,
der Planung und das Bewußtsein. Bisher hatten wir nämlich nur das sich selbst
nicht reflektierende Verhalten der unbelebten Materie betrachtet und mußten von
der Zufälligkeit des Zusammentreffens der energiereichsten Teilchen ausgehen,
was die Wahrscheinlichkeit für Übergänge, die von einer revolutionären
Situation gekennzeichnet sind, gegen Null gehen läßt. Betrachten wir nochmals
die Maxwell-Boltzmann-Verteilung der kinetischen Energie der Teichen, dann
stellen wir fest, daß in einem gewissen Mindestvolumen genügend Teilchen
vorhanden sind, die eine ausreichende Energie für einen reaktiven Zusammenstoß,
also einen Zustandswechsel, besitzen. Dieser wäre aber nur dann denkbar, wenn
sie sich für einen geplanten Übergang organisieren könnten.
Und
genau das könnte die Menschheit.
An
dieser Stelle müßte einiges klar werden:
Erstens,
daß die vordergründige Sorge der Hüter des Systems nicht der Frage gelten muß:
wie energiearm sind die Teilchen, sondern daß diese möglichst unterschiedlich
in ihren Ambitionen und Überzeugungen ausgerichtet sind, damit sie sich für
ein gemeinsames Ziel nicht organisieren. Verstörung und Überschwemmung sind
dafür probate Mittel, wie auch die Stimulierung des Individualismus. Dieser
Individualismus ist insofern auch zweckdienlich, weil er die Herausbildung der
Individualität scheinbar befriedigt.
In
den Spielregeln des Systems verbirgt sich allerdings eine, wenn auch nicht
sofort ersichtliche Ordnung, die größtenteils gnadenlos ist. Menschen, die an
dieser Ordnung scheitern, ziehen sich oft ins Private oder Individualistische
zurück und stehen Strukturen und Ordnung allgemein ablehnend gegenüber,
ohne zu begreifen, daß nicht die Strukturiertheit an sich ihr Scheitern
verursachte, sondern die konkrete Willkür dahinter, daß stattdessen eine Strukturlosigkeit
erst recht dem nützen würde, der die Macht hat und diese dadurch noch
hemmungsloser durchsetzen könnte, und daß den Gescheiterten nur eine Struktur
oder Ordnung — eben eine andere — aus diesem Dilemma helfen kann.
Zweitens,
daß es für einen Zustandswechsel von großer Bedeutung ist, inwieweit der
Mensch über ein Selbstbewußtsein verfügt. Selbstbewußtsein, fälschlicherweise
oft mit Eigensucht, Arroganz oder Selbstbehauptung assoziiert, bedeutet, sich
seiner Situation unverfälscht bewußt zu sein, seine Bedürfnisse zu kennen und
für deren Befriedigung die Möglichkeiten von den Illusionen unterscheiden zu können.
Somit bedeutet es auch, Klarheit zu erlangen, ob sich Realisierungsmöglichkeiten
innerhalb des hiesigen Systems überhaupt anbieten. Hierin liegt folgende
Schwierigkeit: Unsere Gesellschaft fordert und verteilt für fast alles eine
Berechtigung. Aber die bloße Existenz reicht ihr nicht für die Erteilung einer
Existenzberechtigung, sie fordert mehr: Erfolg. Der Mensch, genetisch als
gesellschaftlich veranlagt, kann auf die Anerkennung seiner Mitmenschen nicht
verzichten, also braucht er entweder Erfolg, oder er bildet sich ihn ein. Ein
mittelmäßig erfolgloser Mensch muß enormes Selbstbewusstsein haben, sich
diesen Fakt einzugestehen und die ursächlichen Mechanismen zu durchschauen. Der
Normalfall neigt dazu, sich zu den Erfolgreichen zu zählen, zu denen, die vom
Status quo profitieren, und wird, obwohl er selbst der Leidtragende ist, durch
die Paradoxie der Verhältnisse, zur wichtigen Stütze des Systems. Hier spielen
die Illusionen ihre wesentliche Rolle: Weil alle Bauernsöhne hoffen,
ihre unerquickliche Lage lösen zu können, indem sie die eine Königstochter
zur Frau bekommen und damit selbst König werden, plädieren sie für Verhältnisse,
in denen der König auf Kosten der Bauern lebt.
Und
Drittens, daß der Teil der Menschheit, der einen nunmehr nur noch revolutionär
möglichen Zustandswechsel anstrebt und sich ausreichend aktiviert fühlt,
diesen — ganz allgemein und unabhängig wohin — nur dann erreicht, wenn er
zuvor einen Konsens herstellt. Dieser Konsens ist eine Ebene der Begegnungsmöglichkeiten,
auf der sich die energiereichen konsensbejahenden Teilchen konzentrieren, um
Ziel, Weg und Mittel des Zustandswechsels zu konzipieren. Ein Konsens kann
hergestellt werden durch die Methoden mentaler Beeinflussung wie Propaganda,
Suggestion oder Religion mit dem Ziel der verbindlichen Vermittlung von Axiomen,
auf deren Grundlage sich dann ein ideologisches Gebäude errichten läßt. Dafür
bedarf es Macht. Für die Machtlosen gibt es nur einen Konsens, der immer gültig
und jedem zugänglich ist: die Wahrheit.
Jeder
andere Konsens, der auf der Basis einer Konvention beruht, die nicht mit der
Wahrheit kompatibel ist, wird, wenn er die Grundlage liefert, den Potentialwall
zu überschreiten, auch nur wieder in ein nicht viel tieferes und von hohem Wall
umgebenes Niveau führen, da nun diese Konvention stabilisiert werden wird. Nur
die Wahrheit als Konsens ist fähig, das System in eine tiefere und offene
Potentiallandschaft zu führen. Wenn sich dann im System Spielregeln
herausbilden, die einer weiteren Veränderung nicht mehr antagonistisch gegenüberstehen,
die eine evolutionäre Weiterentwicklung in potentialärmere Gebiete dulden, wären
die Epochen der Diktaturen beendet. Wer so etwas sagt, wird der Träumerei
bezichtigt — und zwar genau von jenen, die fest die Augen verschließen müssen,
denn woanders finanziert der Albtraum des Krieges ihre Träumerei von der Lösung
der Probleme innerhalb des Paradigmas.
2.2.4.
Weitere Formen der Verschwendung
Bereits
den bisher genannten Formen der Verschwendung war es eigen, daß die Maßnahmen
nicht nur überflüssig, sondern schmerzhaft überflüssig sind. Zumindest ist
das Leid, wenn es von Menschenhand verursacht wird, ein schrecklicher
Spezialfall der Verschwendung, den wir im Überfluß produzieren, nämlich die
negative psychoökonomische Bilanz und psychische Deformation des Menschen in
der entfremdeten Gesellschaft und als Höhepunkt den Krieg.
Weitere
Verschwendung liegt in der Akkumulation von Unwahrheiten.
Wenn
am Anfang von Punkt 2 nach den Hauptgründen gefragt wird, die es erzwingen,
sich gegen die herrschenden Spielregeln zu positionieren, dann müssen auch die
Fragen gestellt werden, ob das möglich ist und was sich daraus ableitet.
Kann man sich der allumfassenden Suggestionsmacht entziehen? — Einige wenige können
das. — Ist das bedeutend? — Ja, eine einzelne offen vorgebrachte Weigerung
hat mehr Wirkung als der Suggestionsdruck, der von zehn Mitläufern ausgeht.
Erinnern wir uns an das Milgram-Experiment: der Gehorsam sank auf 10 %,
wenn eine anwesende Person sich der Fortführung widersetzte. Und auch der
Konformitätstest von S. Asch hat noch einen zweiten Teil, nämlich, daß die
Versuchsperson weitestgehend ihrer eigenen Auffassung gemäß entscheidet,
sobald eine anwesende Person das ansonsten einhellig abgegebene
Fehlurteil durchkreuzt.
Auf
diesen einen kommt es oftmals an. Und das berührt die Frage nach der
Verantwortung schon sehr stark.
Wählt
ein Projekt die Verantwortung als sein Hauptthema, dann wird es auf das
Wohlwollen fast aller guten Menschen stoßen. Das bedeutet noch gar nichts,
solange nicht Einigkeit vorherrscht, worin die Verantwortung besteht. Helmut
Kohl wird sich bei der Vollstreckung der deutschen Einheit genauso
verantwortlich gefühlt haben, wie Ulrike Meinhof bei der Niederschrift des
Manifestes »Das Konzept Stadtguerilla«. Wenn wir uns nämlich damit
zufrieden geben wollen, daß jeder seine Taten rechtfertigend das Wort
Verantwortung anders definiert, dann können wir diesen Lendenschurz auch gleich
fallen lassen. Eine allgemein gültige Definition muß auf Fundamenten beruhen;
und dafür Begriffe zu wählen, die selbst nur auf der Oberfläche schwimmen,
wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Zukunft, Schuld oder Pflicht, reiht den
Versuch sofort in das Arsenal der Ideologie ein. Richtigkeit und Bestand kann
nur eine Theorie haben, die nicht von kulturell gesetzten Prämissen, sondern
von der unveränderlichen Kondition des menschlichen Wesens ausgeht.
Jede
Theorie hat ihre Begründungen, Randbedingungen und dialektischen Verflechtungen
in anderen Theorien und diese wiederum in anderen. Daß ein solcher Text, der über
die Verantwortung des Künstlers etwas Fundiertes aussagen will, sich
mehr mit den Grundlagen der Grundlagen beschäftigen und dabei immer mehr in
Breite und Länge gehen muß; und doch irgendwo einen Schlußstrich ziehen und
einen schuldig gebliebenen Beweis hinterlassen muß und letztendlich doch keine
fertige Handlungsliste dem Leser übereignet, dafür aber Argumente für eigene
Interpretationen, liegt im Wesen der Sache.
2.5.
Künstlerdilemma und Künstlerliste
Manche
Künstler haben nicht mehr Selbstbewußtsein als unsere Bauernsöhne und machen
sich auf den Weg zum König. Das brachte Prof. W. Ullrich auf die Idee zur
Ausstellung »Macht zeigen — Kunst als Herrschaftsstrategie« im Deutschen
Historischen Museum. Er wollte demonstrieren, »wie Kunstwerke dazu
verwendet werden, ein breiteres Publikum zu befremden und zu verunsichern,
diejenigen hingegen, die sich zu einem spröden Gemälde oder einer rätselhaften
Skulptur bekennen, ungewöhnlich und erhaben erscheinen zu lassen«. Auch wenn
das wie verfehlt wurde, belegte die Ausstellung ein daß.
Darüber
wird sich ein älterer noch immer erfolgloser Künstler die Hände gerieben
haben und schmunzelnd denken: »Aha, Baselitz, Leipziger Schule, sogar Jonathan
Meese sind also doch Staatskünstler«. Aber daß diese Häme reiner Neid ist,
zeigt sich daran, daß er nach ihnen schielt, wenn er selbst malt. Vielleicht
braucht der König noch ein Bild mehr. Aber genauso wenig wie die Königstöchter
für alle Bauernsöhne reichen, reichen die Könige nicht für all die verstörenden
Bilder. Das einzige was er schafft ist, daß er sich zum Schüler des Staatskünstlers
macht und dessen Schule begründet.
Junge
Künstler sind unbefangener, kennen keinen Neid, für den man sich schämen müßte.
Ganz im Geiste eines sportlichen Wettkampfes aufgewachsen, ist ihnen der Sieg
wichtiger als das Ziel.
Doch
egal, ob man fröhlich mitmacht, weil man die Suggestion des Kulturregimes nie
gespürt hat, da sie allumfassend ist, oder seinen Neid mühevoll verdrängt — authentisch kann erst derjenige werden, der gleichmütig seiner
Erfolglosigkeit begegnen kann, die herrschenden Mechanismen durchschaut und
aufrichtig und engagiert versucht, denen etwas entgegen zu setzen.
Das
soll nicht gegen Vorbilder sprechen, ganz im Gegenteil: ist es nicht gerade die
Stärke eines Künstlers, wenn die konkreten Verwirklichungen seiner Konzepte
andere Künstler aus kunstimmanenten Gründen inspirieren.
Es
gilt eben zu unterscheiden, ob der Mainstream daher kommt, weil die Erneuerungen
der Avantgarde fachlich überzeugend sind und andere zur Aufnahme und
Weiterentwicklung animieren, oder ob ein Künstler unbewußt einen bereits
erfolgreichen kopiert, in der Hoffnung, dadurch am Erfolg teilzuhaben, oder weil
er sich gar nichts anderes vorstellen kann. Und wer dazwischen zu unterscheiden
vermag, kann auch das defensive Argument, es hätte schon immer Moden
gegeben, wie z.B. Kubismus oder Surrealismus usw., leicht entkräften,
besonders, wenn er sich die kunsttheoretische Literatur der jeweiligen Epochen
zur Hand nimmt: Jacques Riviéres Auseinandersetzung mit dem Kubismus und André
Bretons Schriften über den Surrealismus sind tiefgründig und nachvollziehbar,
im Gegensatz zu dem pseudointellektuellen Geschwafel über die heutige Kunst,
das genau jene zu verstehen meinen, denen das Erlebnis, etwas zu verstehen,
bisher versagt blieb. Das alles wird seinen Grund haben und der wird darin
liegen, daß kunstimmanente Aspekte in den Hintergrund treten, wenn es um die
Stabilisierung unseres Kulturregimes geht. Das, was sich hierbei
herauskristallisiert, Staatskunst zu nennen, wäre falsch, aber es hat sehr viel
mit Macht und Systemerhaltung zu tun; es ist auch nicht der viel zu auffällige
Propagandarealismus, sondern die verstörende Flut, die jegliche Klarheit im
Denken wegschwemmt.
Ein
Künstler kann unter diesen Bedingungen drei verschiedene Haltungen einnehmen:
sich bei der allgemeinen Verstörung beteiligen, die unerträglichen Zustände
beschönigen oder sich dem Trend widersetzend seiner Kunst einen nachweisbaren
Sinn geben. Doch da stellen uns gleich mehrere Paradoxien ein Bein:
-
daß die Verstörer glauben, sie seien unangepaßt, weil sie sich für
das Gegenteil der Beschöniger halten.
-
daß die Beschöniger glauben, ihr Kitsch sein Schönheit.
-
daß wiederum die Verstörer wirkliche Schönheit des Kitsches
bezichtigen.
-
und das Traurige: daß so mancher Rebell mit verstörender Kunst die
Macht zu attackieren versucht, die er, ohne es zu merken, damit festigt.
Um
dieses Wirrwarr zu entfitzen, herauszufinden, welche Rolle die Kunst spielen
sollte und welche sie jedoch in Wirklichkeit spielt, bedarf es einer
wissenschaftlichen Kulturbetrachtung.
Dann
könnte man herausfinden, welche Kunst der Repression wirklich etwas
entgegensetzt und hätte auch eine Grundlage für eine Künstlerliste.